Die Bücher und das Paradies
von
Cervantes können wir einzelne Titel zitieren, denn es
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waren endliche Bibliotheken, begrenzt durch das
Universum, von dem sie handelten, die eine durch das von
Roncesvalles, die andere durch das der Sorbonne. Aus der
Bibliothek von Borges können wir keine Titel zitieren,
denn die Zahl ihrer Bücher ist unendlich, und mehr als
deren Inhalt interessiert uns das Format der Bibliothek.
Bibliotheken von Babel sind auch schon vor Borges
erdacht worden. Zu den Eigenschaften der von Borges
erdachten gehört nicht nur, daß sie unzählige Bücher in
einer unendlichen Flucht periodisch wiederkehrender
Räume enthält, sondern auch, daß sie Bände vorweisen
kann, die alle nur möglichen Kombinationen von
fünfundzwanzig orthographischen Symbolen enthalten, so
daß keine Buchstabenkombination vorstellbar ist, welche
die Bibliothek nicht vorausgesehen hat.
Dies war der uralte Traum der Kabbalisten, denn nur
durch unendliches Kombinieren einer endlichen Reihe von
Zeichen konnte man hoffen, eines Tages den geheimen
Namen Gottes zu formulieren. Und wenn ich hier nicht,
wie mancher vielleicht erwartet, die drehbaren Scheiben
des Raimundus Lullus zitiere, dann deshalb, weil er mit
ihnen zwar eine astronomische Zahl von Sätzen
generieren, davon aber nur die wahren behalten und die
anderen verwerfen wollte. Doch als man die Scheiben des
Lullus und die kombinatorische Utopie der Kabbalisten im
17. Jahrhundert zusammenbrachte, hoffte man außer dem
Namen Gottes auch den jedes Menschen auf der Welt zu
nennen und so dem Fluch der Sprache zu entgehen, die
uns zwingt, Individuen durch allgemeine Begriffe zu
bezeichnen, haecceitates durch quidditates , so daß wir stets – wie die Menschen des Mittelalters – einen bitteren
Geschmack wegen der penuria nominum im Munde
behalten.
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Deswegen hat Georg Philipp Harsdörffer in Mathe-
matische und philosophische Erquickstunden (1651) vor-
geschlagen, 264 sprachliche Einheiten (Präfixe, Suffixe,
Buchstaben und Silben) auf fünf drehbare Scheiben zu
verteilen, um durch deren Kombination 97
209
600
deutsche Wörter zu erzeugen, einschließlich aller nicht
existierenden. Der Mathematiker Christoph Clavius hat
berechnet ( In Spheram Ioannis de Sacro Bosco , 1607), wie viele Termini mit den 23 Buchstaben des Alphabets –
damals machte man keinen Unterschied zwischen u und
v – produziert werden könnten, wenn man die Buchstaben in Gruppen von zwei und zwei, drei und drei und so weiter
kombinierte, bis man zu »Wörtern« mit 23 verschiedenen
Buchstaben gelangt. Sein Kollege Pierre Guldin
( Problema arithmeticum de rerum combinationibus , 1622) hat die Gesamtzahl aller mit 23 Buchstaben generierbaren
Wörter zwischen zwei und 23 Buchstaben berechnet,
unabhängig davon, ob sie einen Sinn haben oder nicht,
und kam auf mehr als siebzigtausend Milliarden
Milliarden solcher Wörter; um sie in Registerbücher von
je tausend Seiten zu schreiben, die Seite mit 100 Zeilen zu
je 60 Buchstaben, bräuchte man 257 Millionen Milliarden
solcher Bücher, und um diese Bücher aufzustellen,
brauchte man 8 052 122 350 Bibliotheken, jede mit 432
mal 432 Fuß Seitenlänge. Pater Mersenne, der außer den
Wörtern auch die »Gesänge« mit in Betracht zog, also die
musikalischen Sequenzen, hat errechnet ( Harmonie
universelle , 1636), daß die Anzahl der mit 22 Tönen
generierbaren Tonfolgen fast Zwölftausend Milliarden
Milliarden beträgt
– und daß, wollte man sie alle
aufschreiben, man dafür bei tausend pro Tag annähernd
dreiundzwanzig Millionen Jahre bräuchte.
Gerade um sich über solche mathematisch-kombina-
torischen Träume lustig zu machen, hat Jonathan Swift
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seine Anti-Bibliothek vorgeschlagen, will sagen: eine
perfekte, wissenschaftliche, universale Sprache, in der
man keine Bücher, keine Wörter und keine alphabetischen
Zeichen mehr brauchen würde:
Alsdann begaben wir uns in die Fakultät für Sprachen, wo drei
Professoren darüber berieten, die Sprache ihres eigenen Landes zu verbessern. Das erste Projekt bestand darin, die Rede zu verkürzen, indem man vielsilbige Wörter zu einsilbigen beschneidet und Verben und Partizipien wegläßt, da alle vorstellbaren Dinge in Wirklichkeit ja nur Hauptwörter sind. Das zweite war ein Projekt zur völligen Abschaffung aller Wörter überhaupt, und dies wurde als ein großer Vorteil sowohl im Hinblick auf die Gesundheit als auch auf die Kürze hingestellt. Denn es liegt auf
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