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Die Bücher und das Paradies

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Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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der Hand, daß jedes Wort, das wir aussprechen, in gewissem Maße eine Ver-ringerung unserer Lungen durch Abnutzung bedeutet und folglich zur Verkürzung unseres Lebens beiträgt. Das vorgeschlagene
    Mittel war folgendes: Da Wörter nur Namen für Dinge sind, wäre es sehr viel praktischer, wenn alle Menschen diejenigen Dinge bei sich führten, die sie brauchten, um auszudrücken, worüber sie
    jeweils sprechen wollen. Und diese Erfindung hätte sich auch
    gewiß bewährt, zur großen Bequemlichkeit und zum Vorteil für
    die Gesundheit der Untertanen, wenn nicht die Weiber im Verein mit dem Pöbel und den Analphabeten gedroht hätten, einen
    Aufstand anzuzetteln, falls man ihnen nicht erlaubte, nach Art ihrer Vorfahren mit der Zunge zu reden. Solch ein hartnäckig
    unversöhnlicher Feind der Wissenschaft ist das gemeine Volk!
    Viele der Gelehrtesten und Weisesten haben jedoch das neue
    System übernommen, sich durch Dinge auszudrücken, dessen einziger Nachteil darin besteht, daß jemand, dessen Angelegen-heiten sehr umfangreich und vielfältig sind, ein entsprechend
    größeres Bündel von Dingen auf dem Rücken tragen muß, falls er es sich nicht leisten kann, von ein oder zwei starken Dienern
    begleitet zu werden. Ich habe oft gesehen, wie zwei dieser Weisen unter der Last ihrer Bündel fast zusammenbrachen, wie bei uns die Hausierer. Wenn sie sich auf der Straße begegneten, legten sie ihre Lasten nieder, öffneten ihre Säcke und unterhielten sich eine
    Stunde lang; dann packten sie ihre Utensilien wieder ein, halfen einander, ihre Bürden wieder auf den Rücken zu nehmen, und
    verabschiedeten sich.
    Jonathan Swift, Gullivers Reisen , III, 5
    138
    Man beachte jedoch, daß auch bei Swifts Projekt etwas
    herauskäme, was der Bibliothek von Babel sehr ähnlich
    wäre. Denn um alle Dinge des Universums benennen zu
    können, brauchten wir ein entsprechendes Vokabular aus
    Dingen, und die Ausdehnung dieses Vokabulars käme der
    Ausdehnung des gesamten Universums gleich. Also
    wieder kein Unterschied zwischen Bibliothek und
    Universum. Bei Swifts Projekt wären wir in der
    Bibliothek, ja Teil der Biblio thek selbst und könnten nicht
    nur nicht aus ihr heraus, sondern könnten nicht einmal
    über sie sprechen, denn wie man in der Bibliothek von
    Babel immer nur in einem der sechseckigen Räume auf
    einmal sein kann, so könnten wir in der Welt, in der wir
    leben, immer nur von dem sprechen, was uns gerade
    umgibt und worauf wir mit dem Finger zeigen können.
    Aber nehmen wir einmal an, Swifts Projekt hätte gesiegt
    und die Menschen sprächen nicht mehr. Auch in diesem
    Fall würde die Bibliothek immer noch, wie Borges betont
    hat, die Autobiographien der Erzengel und die bis ins
    einzelne gehende Geschichte der Zukunft enthalten. Und
    gerade diese Bemerkung von Borges ist es, von der
    ausgehend Thomas Pavel in seinem Buch Fictional
    Worlds 3 ein faszinierendes Gedankenexperiment ent-
    wickelt hat. Angenommen, ein allwissendes Wesen wäre
    imstande, ein Maximalwerk zu schreiben, das alle wahren
    Sätze sowohl über die wirkliche Welt als auch über alle
    möglichen Welten enthielte. Da man über das Universum
    in verschiedenen Sprachen sprechen kann und jede
    Sprache es anders definiert, gäbe es natürlich eine
    Maximalkollektion von Maximalwerken. Nehmen wir nun
    an, Gott beauftragt seine Engel, für jeden Menschen

    3 Cambridge, Harvard University Press, 1986.
    139
    tägliche Chroniken zu schreiben, in denen sie alle
    Aussagen notieren (über die möglichen Welten ihrer
    Wünsche oder Hoffnungen und über die wirkliche Welt
    ihrer Taten), die einem wahren Satz in einem der Bücher
    entsprechen, aus denen die Maximalkollektion der Maxi-
    malwerke besteht. Die gesammelten Tageschroniken eines
    gegebenen Individuums müssen am Tag des Jüngsten
    Gerichts vorgelegt werden, zusammen mit denen über das
    Leben der Familien, der Stämme und der Nationen.
    Aber der Engel, der eine solche Chronik schreibt, reiht
    nicht nur wahre Sätze aneinander, sondern gruppiert sie,
    bewertet sie, ordnet sie zu Systemen. Und da am Tag des
    Jüngsten Gerichts jedes Individuum und jede Gruppe
    einen Engel als Verteidiger hat, schreiben diese Ver-
    teidiger für jedes Individuum und jede Gruppe eine wie-
    tere astronomische Reihe von Tageschroniken, in denen
    dieselben Sätze anders gruppiert und auf andere Weise den
    Sätzen eines anderen Maximalwerks gegenübergestellt
    werden.
    Da jedes dieser unzähligen Maximalwerke zu

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