Die Bücher und das Paradies
der Hand, daß jedes Wort, das wir aussprechen, in gewissem Maße eine Ver-ringerung unserer Lungen durch Abnutzung bedeutet und folglich zur Verkürzung unseres Lebens beiträgt. Das vorgeschlagene
Mittel war folgendes: Da Wörter nur Namen für Dinge sind, wäre es sehr viel praktischer, wenn alle Menschen diejenigen Dinge bei sich führten, die sie brauchten, um auszudrücken, worüber sie
jeweils sprechen wollen. Und diese Erfindung hätte sich auch
gewiß bewährt, zur großen Bequemlichkeit und zum Vorteil für
die Gesundheit der Untertanen, wenn nicht die Weiber im Verein mit dem Pöbel und den Analphabeten gedroht hätten, einen
Aufstand anzuzetteln, falls man ihnen nicht erlaubte, nach Art ihrer Vorfahren mit der Zunge zu reden. Solch ein hartnäckig
unversöhnlicher Feind der Wissenschaft ist das gemeine Volk!
Viele der Gelehrtesten und Weisesten haben jedoch das neue
System übernommen, sich durch Dinge auszudrücken, dessen einziger Nachteil darin besteht, daß jemand, dessen Angelegen-heiten sehr umfangreich und vielfältig sind, ein entsprechend
größeres Bündel von Dingen auf dem Rücken tragen muß, falls er es sich nicht leisten kann, von ein oder zwei starken Dienern
begleitet zu werden. Ich habe oft gesehen, wie zwei dieser Weisen unter der Last ihrer Bündel fast zusammenbrachen, wie bei uns die Hausierer. Wenn sie sich auf der Straße begegneten, legten sie ihre Lasten nieder, öffneten ihre Säcke und unterhielten sich eine
Stunde lang; dann packten sie ihre Utensilien wieder ein, halfen einander, ihre Bürden wieder auf den Rücken zu nehmen, und
verabschiedeten sich.
Jonathan Swift, Gullivers Reisen , III, 5
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Man beachte jedoch, daß auch bei Swifts Projekt etwas
herauskäme, was der Bibliothek von Babel sehr ähnlich
wäre. Denn um alle Dinge des Universums benennen zu
können, brauchten wir ein entsprechendes Vokabular aus
Dingen, und die Ausdehnung dieses Vokabulars käme der
Ausdehnung des gesamten Universums gleich. Also
wieder kein Unterschied zwischen Bibliothek und
Universum. Bei Swifts Projekt wären wir in der
Bibliothek, ja Teil der Biblio thek selbst und könnten nicht
nur nicht aus ihr heraus, sondern könnten nicht einmal
über sie sprechen, denn wie man in der Bibliothek von
Babel immer nur in einem der sechseckigen Räume auf
einmal sein kann, so könnten wir in der Welt, in der wir
leben, immer nur von dem sprechen, was uns gerade
umgibt und worauf wir mit dem Finger zeigen können.
Aber nehmen wir einmal an, Swifts Projekt hätte gesiegt
und die Menschen sprächen nicht mehr. Auch in diesem
Fall würde die Bibliothek immer noch, wie Borges betont
hat, die Autobiographien der Erzengel und die bis ins
einzelne gehende Geschichte der Zukunft enthalten. Und
gerade diese Bemerkung von Borges ist es, von der
ausgehend Thomas Pavel in seinem Buch Fictional
Worlds 3 ein faszinierendes Gedankenexperiment ent-
wickelt hat. Angenommen, ein allwissendes Wesen wäre
imstande, ein Maximalwerk zu schreiben, das alle wahren
Sätze sowohl über die wirkliche Welt als auch über alle
möglichen Welten enthielte. Da man über das Universum
in verschiedenen Sprachen sprechen kann und jede
Sprache es anders definiert, gäbe es natürlich eine
Maximalkollektion von Maximalwerken. Nehmen wir nun
an, Gott beauftragt seine Engel, für jeden Menschen
3 Cambridge, Harvard University Press, 1986.
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tägliche Chroniken zu schreiben, in denen sie alle
Aussagen notieren (über die möglichen Welten ihrer
Wünsche oder Hoffnungen und über die wirkliche Welt
ihrer Taten), die einem wahren Satz in einem der Bücher
entsprechen, aus denen die Maximalkollektion der Maxi-
malwerke besteht. Die gesammelten Tageschroniken eines
gegebenen Individuums müssen am Tag des Jüngsten
Gerichts vorgelegt werden, zusammen mit denen über das
Leben der Familien, der Stämme und der Nationen.
Aber der Engel, der eine solche Chronik schreibt, reiht
nicht nur wahre Sätze aneinander, sondern gruppiert sie,
bewertet sie, ordnet sie zu Systemen. Und da am Tag des
Jüngsten Gerichts jedes Individuum und jede Gruppe
einen Engel als Verteidiger hat, schreiben diese Ver-
teidiger für jedes Individuum und jede Gruppe eine wie-
tere astronomische Reihe von Tageschroniken, in denen
dieselben Sätze anders gruppiert und auf andere Weise den
Sätzen eines anderen Maximalwerks gegenübergestellt
werden.
Da jedes dieser unzähligen Maximalwerke zu
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