Die Bücher und das Paradies
unzähligen
alternativen Welten gehört, schreiben die Engel unzählige
Tageschroniken, in denen sich Sätze mischen, die in einer
Welt wahr und in einer anderen falsch sind. Wenn wir nun
bedenken, daß manche Engel auch ungeschickt sind und
Sätze mischen, die ein einzelnes Maximalwerk als zu-
einander widersprüchlich aufführt, so haben wir am Ende
eine Reihe von Kompendien, Miszellaneen, Kompendien
von Fragmenten von Miszellaneen, die Schichten von
Büchern verschiedenen Ursprungs amalgamieren, und an
diesem Punkt ist es kaum noch möglich zu sagen, welche
Bücher wahr und welche falsch sind und in bezug auf
welches ursprüngliche Buch. Wir haben dann eine
astronomische Unzahl von Büchern, deren jedes sich
zwischen mehreren Welten bewegt, und man wird immer
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öfter Geschichten als falsch ansehen, die andere als wahr
betrachtet haben.
Pavel hat diese Dinge geschrieben, um uns vor Augen zu
führen, daß wir bereits in einem Universum dieser Art
leben, nur sind bei uns die Bücher nicht von Engeln
geschrieben, sondern von uns Menschen, von Homer bis
Borges; und er gibt zu verstehen, daß die hybride
Ontologie der Fiktion keine Ausnahme ist gegenüber der
»reinen« Ontologie jener Bücher, die von der wirklichen
Welt handeln. Im Gegenteil, die Legende, die er erzählt,
schildert recht gut unsere Situation angesichts des
Universums der Sätze, die wir als »wahr« zu akzeptieren
gewohnt sind. So daß der Schauder, mit dem wir die
zwiespältigen Grenzen zwischen Fiktion und Realität
wahrnehmen, nicht nur dem gleicht, der uns angesichts
von Büchern aus der Feder von Engeln erfaßt, sondern
auch dem, der uns angesichts jener vielen Bücher erfassen
sollte, die mit dem Gestus der unanfechtbaren Autorität
die wirkliche Welt darstellen.
Die Idee der Bibliothek von Babel hat sich inzwischen
vermählt mit der ebenso schwindelerregenden Vorstellung
von der Pluralität der möglichen Welten, und die
Borgessche Phantasie inspiriert heute bereits die formalen
Berechnungen der Logiker. Doch damit nicht genug – die
von Pavel beschriebene Bibliothek, zu der naturgemäß
auch die Werke von Borges gehören, einschließlich seiner
Erzählung über die Bibliothek von Babel, ähnelt auf
seltsame Weise der Bibliothek des Don Quijote, war diese
doch eine Bibliothek voll unmöglicher Geschichten, die
sich in möglichen Welten abspielen, so daß der Leser den
Sinn für die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verlor.
Es gibt noch eine andere Geschichte, die, ebenfalls von
einem Künstler erfunden, die Phantasie der Wissen-
schaftler, wenn nicht der Logiker, so doch der Physiker
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und Kosmologen angeregt hat, nämlich Finnegans Wake .
Joyce hat keine mögliche Bibliothek erdacht: Er hat das,
was Borges später nahelegen sollte, praktiziert. Er hat die
26 alphabetischen Zeichen des Englischen benutzt, um
einen Dschungel nicht existierender Wörter mit viel-
fältigen Bedeutungen zu erzeugen, er hat sein Buch gewiß
als Modell des Universums angelegt, und er war ganz
sicher der Meinung, daß seine Lektüre unendlich und
periodisch sein solle – wünschte er sich doch für sein
Werk einen ideal reader affected by an ideal insomnia.
Warum zitiere ich hier Joyce? Vielleicht und vor allem
deshalb, weil er, neben Borges, der andere der beiden
modernen Autoren gewesen ist, die ich am meisten geliebt
habe und von denen ich am stärksten beeinflußt worden
bin. Aber auch, weil nun der Moment gekommen ist, uns
über Parallelen und Unterschiede zwischen diesen beiden
Autoren zu befragen, die beide die Sprache und die
universale Kultur zu ihrem Experimentierfeld gemacht
haben.
Ich würde Borges zur experimentellen Literatur der
Moderne rechnen, die nach Meinung vieler dann beginnt,
wenn die Literatur ihre eigene Sprache oder auch die
gewöhnliche Sprache in Frage stellt, sie auseinandernimmt
und bis zu ihren tiefsten Wurzeln bloßlegt. Deshalb denkt
man bei experimenteller Literatur der Moderne immer
sofort an Joyce, und zwar an den Joyce von Finnegans
Wake , in dem nicht nur das Englische, sondern die
Sprachen aller Völker, reduziert zu einem Durcheinander-
wirbeln freischwebender Fragmente, neu zusammen-
gesetzt und erneut auseinandergenommen werden in
einem Strudel neugebildeter lexikalischer Monstren, die
sich für einen Augenblick zusammenballen, um sich dann
wieder aufzulösen, wie in einem kosmischen Ballett von
Atomen, bei dem die Schrift bis zu den
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