Die Bücher und das Paradies
seine
Riten und seine Realität. Wenn man es liest, erfaßt einen
eine leichte (und nicht nur leichte) Unruhe. Wir Menschen
bestehen aus Knochen, Fleisch und Blut. Das Blut ist
wichtig. Aber heutzutage studiert man es nur in den
Laboratorien, und wir haben keine direkte Beziehung zu
unserem Blut. Wenn wir uns mit einem Messer schneiden,
stillen wir das Blut mit einem Wattebausch und mit einem
Pflaster. Wenn wir von einem Chirurgen operiert werden
und das Blut fließt, sind wir narkotisiert. Wenn auf der
Straße ein Unfall passiert, rufen wir die Polizei und die
Ambulanz, aber wir bemühen uns, nicht das Blut zu sehen.
Das war nicht immer so, wie Camporesi uns zeigt, in
früheren Jahrhunderten war Blut eine alltägliche Realität,
die Leute kannten seinen Geruch und seine Zähflüssigkeit.
Stehen wir dem Blut wirklich so fremd gegenüber? Sind
wir wirklich so weit entfernt von jenen Jahrhunderten, von
denen uns Camporesi erzählt? Warum gibt es dann immer
noch und gerade heute so viele satanische Sekten, so viele
Blutkulte, die sogar im Internet für sich werben?
Haben wir das Problem unserer Beziehungen zum Blut
gelöst? Sicher, wir ergötzen uns nicht mehr an
öffentlichen Vierteilungen, bei denen das Blut in Strömen
fließt. Aber während ich dies schreibe, berichten die
italienischen Zeitungen von einer Madonna, die Bluttränen
weint. Aberglauben, gewiß, aber ist es nicht auch
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Aberglauben bei jenen vielen charismatischen Sekten, die
ihre Gläubigen zu einem Blutbad treiben? Welches
Verhältnis besteht zwischen den Bluttränen weinenden
Madonnen und dem Blutdurst, der das Massaker an
Sharon Tate beherrscht hat?
Darum geht es: Camporesi rekonstruiert Gebräuche,
Gefühle, Arten des Schrecken s und der Liebe, die wir für uralt hielten, und fordert uns auf, in uns hineinzuschauen .
Um die dunkle Beziehung zwischen den Mythen und
Riten der Vergangenheit und unseren heutigen Trieben zu
verstehen. Um den uralten Menschen zu entdecken, der in
uns steckt, in uns, die wir das Internet benutzen und
meinen, Blut interessiere nur die Chirurgen und die
Erforscher der neuen planetarischen Pestilenzen.
Vielleicht muß Camporesi in kleinen Dosen gelesen
werden, weil wir uns sonst alle fragen würden: Wer sind
wir bloß, wir zivilisierten Menschen?
Dieses Buch ist kurz. Lesen wir Camporesi in homöo-
pathischen Dosen. Für den Augenblick reicht das. Aber
dann wollen wir vielleicht auch seine anderen Bücher
lesen.2
2 In deutscher Übersetzung sind von Piero Camporesi drei Titel erschienen (von denen keiner mehr lieferbar ist): Das Brot der Träume: Hunger und Halluzinationen im vorindustriellen Europa; Frankfurt/M., Campus 1990; Geheimnisse der Venus: Aphro-disiaka vergangener Zeiten , ebenda, 1991; Bauern, Priester, Possenreißer: Volkskultur und Kultur der Eliten im Mittelalter und in der frühen Neuzeit , ebenda, 1994 (A. d. Ü.).
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Über das Symbol1
Ich weiß schon, beim Thema des Symbols wird alles, was
immer ich dazu sage, durch einen hochgelehrten Artikel
meines Freundes Briosi widerlegt werden. Außerdem habe
ich diesem Thema schon einige Schriften gewidmet,
namentlich einen Artikel in der Enciclopedia Einaudi , der jetzt ein Kapitel meines Buches Semiotik und Philosophie
der Sprache 2 geworden ist. Sei’s aufgrund von Ver-
greisung, sei’s aufgrund der Fortdauer einer jugendlichen
Hybris – ich denke nicht, daß ich meine Ansichten über
dieses Thema geändert habe. Sich ständig weiter-
zuentwickeln ist eine empfehlenswerte Praxis, an die ich
mich häufig halte, manchmal bis an die Grenzen der
Schizophrenie. Aber es gibt Fälle, in denen man nicht
demonstrieren muß, daß man seine Ansichten geändert
hat, bloß um zu zeigen, daß man auf der Höhe der Zeit ist.
Auch im Bereich der Ideen ist Monogamie nicht immer
ein Zeichen für fehlende Libido.
Um nicht zu wiederholen, was ich andernorts über das
Symbol gesagt habe, mochte ich hier einen besonderen
und sehr aktuellen Aspekt dieser vexata quaestio
behandeln, nämlich das Phänomen der Symbol-Paranoia.
Zu diesem Zweck muß ich jedoch auf einen Teil des schon
1 Hauptreferat auf dem Kongreß über das Symbol 1994 in Siena
(veröffentlicht in der Sondernummer »Simbolo«, ed. Sandro
Briosi, der Zeitschrift L’immagine riflessa , NS, IV, 1, S. 35 – 53).
Ich widme diesen Text Sandro Briosi, der damals noch unter uns weilte.
2 Dt. München, Fink, 1985, S. 193 – 241 (A. d.
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