Die Bücher und das Paradies
des zufälligen,
aber fortgesetzten scanning : Wenn man die Bücher oft
genug zur Hand nimmt und neu ordnet, bleibt es nicht aus,
daß man dann und wann einen Blick hineinwirft; auch
wenn man ein Buch nur umstellen wollte, liest man ein
bißchen darin, heute eine Seite, ein paar Wochen später
eine andere, und schließlich hat man einen Großteil davon
gelesen, wenn auch nicht kontinuierlich. Doch die wahre
Erklärung ist eine andere: Zwischen dem Zeitpunkt, an
dem das Buch in unsere Bibliothek gekommen ist, und
dem Moment, in dem wir es aufschlagen, haben wir
andere Bücher gelesen, in denen etwas enthalten war, was
in jenem ersten Buch gestanden hat, und so entdeckt man
am Ende dieses langen intertextuellen Weges, daß auch
jenes nicht gelesene Buch inzwischen zu unserem
geistigen Erbe gehört und uns vielleicht sogar tief
beeinflußt hat. Ich glaube, so ist es bei Borges mit seinen
Beziehungen zu Peirce und Royce gewesen. Und wenn
das ein Einfluß ist, dann jedenfalls kein direkter.
Zum Thema des Doppelgängers: Warum habe ich dieses
Motiv in der Insel des vorigen Tages verwendet? Weil
Emanuele Tesauro in seinem Cannochiale aristotelico
sagt, wenn man einen barocken Roman schreiben wolle,
sei der Doppelgänger obligatorisch. Um Tesauros Regeln
zu befolgen, habe ich zu Beginn des Romans den
Zwillingsbruder eingeführt, und dann wußte ich nicht, was
ich mit ihm anfangen sollte. Nach einer Weile fand ich
doch eine Möglichkeit, ihn zu verwenden. Aber hätte ich
ihn auch eingeführt, wenn ich (jenseits der Anregung von
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Tesauro) nicht auch vom Thema des Doppelgängers bei
Borges beeinflußt gewesen wäre? Und was, wenn ich statt
dessen an den Doppelgänger bei Dostojewski gedacht
hätte? Und wenn Borges von Tesauro beeinflußt worden
wäre, womöglich durch andere barocke Autoren?
Bei den Spielen mit Intertextualität und Einflüssen muß
man sich immer hüten, die simpelste Lösung zu wählen.
Jemand von Ihnen hat dieser Tage an die Stelle bei Borges
erinnert, wo er von einem Affen spricht, der blindlings auf
die Tasten einer Schreibmaschine haut und am Ende die
Divina Commedia geschrieben hat. Bedenken Sie aber,
daß das Argument, wenn man Gott leugne, müsse man
annehmen, daß die Erschaffung der Welt so vonstatten
gegangen sei wie das Tun jenes Affen, unzählige Male
von den christlichen Fundamentalisten im 19. Jahrhundert
(und später) gegen die Evolutionstheorie und die Theorien
der zufälligen Entstehung des Kosmos benutzt worden ist.
Das Thema ist sogar noch viel älter, wir könnten es bis zu
Demokrit und zu Epikurs Diskussionen über das clinamen
zurückführen.
Heute morgen ist unter Verweis auf Mauthner die Frage
angesprochen worden, ob die real characters von Wilkins so etwas wie die Schriftzeichen einer uralten chinesischen
Sprache seien (daher dann Borges’ Idee der chinesischen
Enzyklopädie). Aber daß diese »realen Buchstaben« den
chinesischen Ideogrammen gleichen müßten, hat schon
Francis Bacon gesagt, und damit hat die ganze Suche nach
der vollkommenen Sprache im 17. Jahrhundert begonnen.
Gegen diese Idee hat Descartes gewettert. Nun kannte
Borges zweifellos, ob durch Mauthner oder direkt, den
berühmten Brief von Descartes an Mersenne, aber kannte
er auch die Theorie von Francis Bacon über die real
characters und die chinesischen Ideogramme? Oder hat er das Thema bei Athanasius Kircher gefunden? Oder bei
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noch einem anderen Autor? Ich denke, es lohnt sich, die
Drehscheiben der Intertextualität mit voller Kraft rotieren
zu lassen, um zu sehen, auf welch unerwartete Weisen
sich das Spiel der Einflüsse artikuliert. Manchmal ist der
tiefste Einfluß der, den man zuletzt entdeckt, und nicht
der, den man gleich erkennt.
Ich würde gern noch einige Aspekte meiner Arbeit
hervorheben, in denen ich nicht als Borgesianer bezeichnet werden kann, aber da die Zeit schon fortgeschritten ist,
will ich nur zwei erwähnen.
Zunächst die Frage der Quantität. Natürlich kann man
ein kurzes Gedicht wie Leopardis Infinito schreiben oder einen historischen Schmöker wie Cantùs Margherita
Pusteria , was ein ebenso langes wie langweiliges Buch ist; aber lang ist auch und dabei erhaben die Divina
Commedia , während ein kurzes Sonett von Burchiello
bloß amüsant ist. Der Gegensatz Minimalismus/Maxi-
malismus ist kein Wertgegensatz. Er ist ein Gegensatz in
der Gattung oder im Verfahren. Und in diesem Sinne war
Borges zweifellos
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