Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bücher und das Paradies

Die Bücher und das Paradies

Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
ein Minimalist, während ich ein
    Maximalist bin. Borges steht im Zeichen der Schnelligkeit
    und kommt rasch ans Ende seiner Geschichten, und so
    konnte und mußte er Calvino gefallen. Ich bin eher ein
    Autor des Verweilens (wie ich es in meinen Harvard-
    Vorlesungen ausgedrückt habe10).
    Vielleicht ebenfalls aus Gründen der Quantität kann man
    meine Schreibweise, glaube ich, als neobarock definieren.
    Borges ist ein Autor, der zwar mental vom Barock und
    von der barocken Art des Umgangs mit Ideen fasziniert

    10 Im Wald der Fiktionen , Hanser 1994, S. 67 ff. (A. d. Ü.).
    171
    war, doch seine Schreibweise ist nicht barock. Seine
    Schreibweise ist glasklare Neoklassik.
    Aber ich möchte lieber noch ein paar Grundideen von
    Borges herausstellen, die sich nicht auf ein simples Zitat
    zurückführen lassen und die vielleicht seine tiefste
    Erbschaft darstellen, weshalb sie nicht nur mich, sondern
    auch viele andere beeinflußt haben.
    Jemand hat in diesen Tagen vom Erzählen als
    Erkenntnismodell gesprochen. Ohne Zweifel hat Borges’
    gesamtes Parabelschaffen uns alle insofern beeinflußt, als
    es uns gezeigt hat, wie man philosophische und meta-
    physische Aussagen machen kann, indem man Gleichnisse
    erzählt. Auch hier haben wir natürlich ein Thema, das bei
    Platon und – wenn Sie erlauben – bei Jesus beginnt und
    bei Juri M.
    Lotman endet (Textmodalität gegen
    grammatikalische Modalität), bei der Psychologie eines
    Jerome Bruner (die narrativen Modelle als Wahrneh-
    mungshilfen) und bei den frames der künstlichen Intelligenz. Aber es scheint mir unbestreitbar, daß Borges’
    Anregung in diesem Sinne grundlegend war.
    Fast ebenso wichtig ist aber auch sein Appell (und
    deswegen habe ich von Borges als einem deliranten
    Archivar gesprochen), die gesamte Enzyklopädie im Licht
    des Verdachts und der kontrafaktischen Überprüfung zu
    lesen, um das enthüllende Wort an den Rändern zu finden,
    die Situation auf den Kopf zu stellen, die Enzyklopädie
    spielerisch gegen sich selbst zu kehren.
    Es ist sehr schwierig, sich der Angst vor dem Einfluß zu
    entziehen, so wie es für Borges sehr schwierig war, ein
    172
    Vorläufer Kafkas zu sein.11 Zu sagen, daß es bei Borges
    keine Idee gibt, die nicht schon vorher da war, heißt soviel
    wie zu sagen, daß es bei Beethoven keine einzige Note
    gibt, die nicht schon vorher gespielt worden ist. Was bei
    Borges grundlegend bleibt, ist seine Fähigkeit, die
    unterschiedlichsten Elemente der Enzyklopädie zu
    benutzen, um daraus eine Musik aus Ideen zu machen.
    Sicher habe ich versucht, ihm darin nachzueifern (auch
    wenn ich den Gedanken einer Ideenmusik von Joyce
    habe). Was soll ich sagen? Daß ich mich angesichts der
    Melodien von Borges, die so unmittelbar kantabel sind
    (auch wo sie atonal sind), so eingängig und exemplarisch,
    immer wie jemand fühle, der nach dem Auftritt eines
    göttlichen Pianisten ein wenig auf der Okarina
    herumgeblasen hat.
    Ich hoffe aber, daß sich nach meinem Tod noch jemand
    findet, der noch ungeschickter ist als ich, als dessen
    Vorläufer ich dann anerkannt werden kann.

    11 Anspielung auf eine Kongreß-Diskussion über Borges als
    »Vorläufer Kafkas«, ausgelöst durch Borges’ Essay »Kafka und
    seine Vorläufer« (Ges. Werke 5/II, S. 114 – 117), in dem es am Ende heißt: »Tatsache ist, daß jeder Schriftsteller seine eigenen Vorläufer erschafft.« (A. d. Ü.)
    173
    Über Camporesi:
    Blut, Körper, Leben1
    Schwer zu sagen, wer Piero Camporesi ist. Sicher ein
    Ethnologe, denn er hat in rund fünfzehn Büchern die
    verschiedenen Aspekte dessen studiert, was man das
    materielle Leben nennt, die Sitten und Bräuche, die
    Verhaltensweisen (und zwar besonders die »niederen«,
    jene, die mit dem Körper, mit der Nahrungsaufnahme, mit
    Blut, Kot und Sex zusammenhängen). Doch von einem
    Ethnologen erwartet man, daß er Feldstudien betreibt, daß
    er die Mythen und Bräuche noch existierender Kulturen erforscht.
    Camporesi liest jedoch Texte. Er liest literarische Texte, oder jedenfalls solche, die zur Geschichte der Literatur
    gehören. Sein akademisches Fach ist die Literatur-
    geschichte (die italienische, so steht es im Vorlesungs-
    verzeichnis der Universität Bologna, aber Camporesi
    macht häufig Ausflüge in andere Literaturen).
    Allerdings liest und entdeckt er Texte, die von den
    Literaturgeschichten ignoriert worden sind, weil darin
    Fragen des Alltagslebens, moralische oder physische
    Probleme behandelt werden. Manchmal

Weitere Kostenlose Bücher