Die Bücher und das Paradies
ein Minimalist, während ich ein
Maximalist bin. Borges steht im Zeichen der Schnelligkeit
und kommt rasch ans Ende seiner Geschichten, und so
konnte und mußte er Calvino gefallen. Ich bin eher ein
Autor des Verweilens (wie ich es in meinen Harvard-
Vorlesungen ausgedrückt habe10).
Vielleicht ebenfalls aus Gründen der Quantität kann man
meine Schreibweise, glaube ich, als neobarock definieren.
Borges ist ein Autor, der zwar mental vom Barock und
von der barocken Art des Umgangs mit Ideen fasziniert
10 Im Wald der Fiktionen , Hanser 1994, S. 67 ff. (A. d. Ü.).
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war, doch seine Schreibweise ist nicht barock. Seine
Schreibweise ist glasklare Neoklassik.
Aber ich möchte lieber noch ein paar Grundideen von
Borges herausstellen, die sich nicht auf ein simples Zitat
zurückführen lassen und die vielleicht seine tiefste
Erbschaft darstellen, weshalb sie nicht nur mich, sondern
auch viele andere beeinflußt haben.
Jemand hat in diesen Tagen vom Erzählen als
Erkenntnismodell gesprochen. Ohne Zweifel hat Borges’
gesamtes Parabelschaffen uns alle insofern beeinflußt, als
es uns gezeigt hat, wie man philosophische und meta-
physische Aussagen machen kann, indem man Gleichnisse
erzählt. Auch hier haben wir natürlich ein Thema, das bei
Platon und – wenn Sie erlauben – bei Jesus beginnt und
bei Juri M.
Lotman endet (Textmodalität gegen
grammatikalische Modalität), bei der Psychologie eines
Jerome Bruner (die narrativen Modelle als Wahrneh-
mungshilfen) und bei den frames der künstlichen Intelligenz. Aber es scheint mir unbestreitbar, daß Borges’
Anregung in diesem Sinne grundlegend war.
Fast ebenso wichtig ist aber auch sein Appell (und
deswegen habe ich von Borges als einem deliranten
Archivar gesprochen), die gesamte Enzyklopädie im Licht
des Verdachts und der kontrafaktischen Überprüfung zu
lesen, um das enthüllende Wort an den Rändern zu finden,
die Situation auf den Kopf zu stellen, die Enzyklopädie
spielerisch gegen sich selbst zu kehren.
Es ist sehr schwierig, sich der Angst vor dem Einfluß zu
entziehen, so wie es für Borges sehr schwierig war, ein
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Vorläufer Kafkas zu sein.11 Zu sagen, daß es bei Borges
keine Idee gibt, die nicht schon vorher da war, heißt soviel
wie zu sagen, daß es bei Beethoven keine einzige Note
gibt, die nicht schon vorher gespielt worden ist. Was bei
Borges grundlegend bleibt, ist seine Fähigkeit, die
unterschiedlichsten Elemente der Enzyklopädie zu
benutzen, um daraus eine Musik aus Ideen zu machen.
Sicher habe ich versucht, ihm darin nachzueifern (auch
wenn ich den Gedanken einer Ideenmusik von Joyce
habe). Was soll ich sagen? Daß ich mich angesichts der
Melodien von Borges, die so unmittelbar kantabel sind
(auch wo sie atonal sind), so eingängig und exemplarisch,
immer wie jemand fühle, der nach dem Auftritt eines
göttlichen Pianisten ein wenig auf der Okarina
herumgeblasen hat.
Ich hoffe aber, daß sich nach meinem Tod noch jemand
findet, der noch ungeschickter ist als ich, als dessen
Vorläufer ich dann anerkannt werden kann.
11 Anspielung auf eine Kongreß-Diskussion über Borges als
»Vorläufer Kafkas«, ausgelöst durch Borges’ Essay »Kafka und
seine Vorläufer« (Ges. Werke 5/II, S. 114 – 117), in dem es am Ende heißt: »Tatsache ist, daß jeder Schriftsteller seine eigenen Vorläufer erschafft.« (A. d. Ü.)
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Über Camporesi:
Blut, Körper, Leben1
Schwer zu sagen, wer Piero Camporesi ist. Sicher ein
Ethnologe, denn er hat in rund fünfzehn Büchern die
verschiedenen Aspekte dessen studiert, was man das
materielle Leben nennt, die Sitten und Bräuche, die
Verhaltensweisen (und zwar besonders die »niederen«,
jene, die mit dem Körper, mit der Nahrungsaufnahme, mit
Blut, Kot und Sex zusammenhängen). Doch von einem
Ethnologen erwartet man, daß er Feldstudien betreibt, daß
er die Mythen und Bräuche noch existierender Kulturen erforscht.
Camporesi liest jedoch Texte. Er liest literarische Texte, oder jedenfalls solche, die zur Geschichte der Literatur
gehören. Sein akademisches Fach ist die Literatur-
geschichte (die italienische, so steht es im Vorlesungs-
verzeichnis der Universität Bologna, aber Camporesi
macht häufig Ausflüge in andere Literaturen).
Allerdings liest und entdeckt er Texte, die von den
Literaturgeschichten ignoriert worden sind, weil darin
Fragen des Alltagslebens, moralische oder physische
Probleme behandelt werden. Manchmal
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