Die Bücher und das Paradies
Ü.).
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Gesagten zurückgreifen, und so erscheint die Paralipse am
Ende hypertroph.
Symbol ist ein Wort, bei dem ich meinen Studenten
immer empfehle, es sehr sparsam zu verwenden und es zu
unterstreichen, wo sie es finden, um dann nach dem
Kontext zu entscheiden, welche Bedeutung es jeweils
annimmt. Tatsächlich weiß ich nicht mehr so recht, was
ein Symbol ist. Ich habe versucht, den symbolischen
Modus als eine besondere Textstrategie zu definieren.
Doch außerhalb dieser Textstrategie – auf die ich später zu
sprechen komme – kann ein Symbol entweder etwas sehr
Klares sein (ein eindeutiger Ausdruck mit definierbarem
Inhalt) oder etwas sehr Dunkles (ein vieldeutiger Aus-
druck, der eine Nebelwolke von Inhalten evoziert).
Diese Ambiguität hat alte Wurzeln, sie ist nicht nur
durch die Etymologie von symbállein gerechtfertigt,
sondern auch durch die Praxis selbst, die zu dieser
Etymologie geführt hat.3 Denn von jenen beiden
aufeinander verweisenden Teilen kann man ja sagen, daß
sie sich ohne Ambiguität wieder zu einem Ganzen
vereinigen werden, sobald sie jemand erfolgreich wieder
zusammenfügt, sie also dem Fluß der Semiose entzieht,
um sie wieder Ding unter anderen Dingen werden zu
lassen; dennoch ist das, was an jedem der beiden
getrennten Teile fasziniert, gerade die Abwesenheit des
3 Der erwähnte Artikel in der Enciclopedia Einaudi beginnt mit den Worten: »Etymologisch gesprochen kommt symbolon von
symbállein , zusammenwerfen, etwas mit etwas anderem
zusammentreffen lassen: Ein Symbol war ursprünglich ein
Erkennungsmerkmal, das aus zwei Hälften einer Münze oder
Medaille bestand. Zwei Teile derselben Sache, jedes für das andere stehend, jedoch erst voll wirksam, wenn sie zusammenpaßten, um wieder das ursprüngliche Ganze auszumachen.« (A. d. Ü.)
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anderen, und nur in und angesichts der Abwesenheit
florieren die unbezähmbarsten Leidenschaften.
Aber verlassen wir die Etymologie. Der erste Skandal,
vor dem wir stehen, ist die Tatsache, daß in bestimmten
Kontexten, meist in naturwissenschaftlichen, der Aus-
druck Symbol benutzt wird, um völlig klare und unumkehrbare Semioseprozesse zu bezeichnen, Objekte, die
alles andere als mehrdeutig sind und ganz im Gegenteil
danach streben, so eindeutig wie irgend möglich gelesen
zu werden. Man denke nur an das chemische Symbol oder
an bestimmte Verwendungen des Symbolbegriffs zur
Bezeichnung der Konventionalität des sprachlichen oder
grammatikalischen Zeichens, im Gegensatz zur fluktuie-
renden Offenheit des Ikons.
Man könnte behaupten, daß auch die logischen Symbole
etwas von der Offenheit dessen haben, was wir seit der
Romantik als symbolisch im dunklen und vieldeutigen
Sinne des Wortes verstehen. Denn sie repräsentieren ja
Variablen, und als solche müßten sie bereit sein, sich mit
den unvorhergesehensten Inhalten füllen zu lassen.
Denken wir beispielsweise an eine Formel der symbo-
lischen Logik wie »Wenn p , dann q «. Man sollte denken, daß p und q mit jedem beliebigen Inhalt gefüllt werden könnten, aber dem ist nicht so. Nehmen wir an, ich setze
an die Stelle von p die gesamte Göttliche Komödie und an die Stelle von q die Aussage sechs mal sechs macht sechsunddreißig . Nach den Gesetzen der materiellen
Implikation wäre das Ergebnis ein wahrer Satz. Aber es ist
unmöglich, die Reihenfolge der beiden Glieder umzu-
kehren. Würde ich die Göttliche Komödie an die Stelle von q setzen, dann wäre die Folgerung – da die Gesamt-menge von Aussagen, die durch Dantes Diskurs gebildet
wird, aus einer funktionalen Wahrheitssicht falsch ist (es
ist nicht wahr, daß ein Florentiner zu Lebzeiten ins
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Paradies gelangt ist oder daß der Fährmann Charon
existiert) – nach denselben Gesetzen der materiellen
Implikation eine falsche Folgerung, obwohl sie eine wahre
Prämisse hätte. Dagegen würde alles funktionieren, wenn
wir anstelle von sechs mal sechs macht sechsunddreißig
den Gesamttext von Mein Kampf setzen würden, insofern
als –
nach dem bekannten Paradox der materiellen
Implikation – falsch und falsch etwas Wahres ergeben.
Daher ist es müßig, semiotische Seiltänzerkunststücke zu
versuchen, um eine Verwandtschaft zwischen dem
logischen Symbol und dem dunklen Symbol der
romantischen Ästhetiken zu finden. Sie unterscheiden sich
in der Funktionsweise, in der Syntax und im
Wahrheitsstatus.
Ebenso hat die Art, wie Cassirer in seiner Theorie
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