Die Buße - Gardiner, M: Buße - The Liar's Lullaby
ist noch nicht alles. Archangel X hat geglaubt, dass sie per E-Mail mit Searle Lecroix korrespondiert.«
Jo sprang auf. »Was?«
»Ich … na ja, ich hab mal in ihren Hotmail-Account reingeschaut. Frag mich nicht wie, sonst krieg ich einen Hautausschlag. Auf jeden Fall hat sie jemandem E-Mails geschickt, den sie für Lecroix gehalten hat. Jemand, der ihr Liebesbriefe geschrieben und ihr gesagt hat, dass sie es geheim halten soll.«
»Ferd, da muss die Polizei verständigt werden.«
»Ich weiß, ich ruf gleich an. Aber jetzt kommt das Wichtigste. Ich glaube, die falschen Lecroix-E-Mails sind von einer Adresse im Umfeld von Tom Paine gekommen.«
Jo schwieg. Ferd redete über IP-Adressen, Traceroutes und X-Originating-Header. Ihr schwirrte der Kopf.
»Und noch was. Petty hat eine Bemerkung fallenlassen … einfach unheimlich. In einer E-Mail an Paine hat sie ein Streichholzheft erwähnt.«
Jo erstarrte. »Was ist damit?«
»Sie hat geschrieben: ›Das hast du geschickt, oder? Willst du mich verbrennen?‹«
Jo versuchte, die Informationen in die Lücken des Puzzles zu integrieren. »Danke, Ferd. Ruf sofort Captain Bohr an.«
Vienna musterte sie gespannt. »Gute Nachrichten?«
»Unter Umständen entscheidend.« Hatte Tom Paine Noel Petty wirklich mit falschen Liebesbriefen angestachelt? Wozu?
Vienna griff nach Tasias Noten. »Wir haben nur noch eine Minute. Was wollen Sie wissen?«
Jo konzentrierte sich. »Tasia hat sowohl Lecroix als auch dem Stuntman gesagt, dass die Wahrheit in ihrer Musik liegt. Die Kompositionen müssen eine verborgene Bedeutung haben.«
Sie beugten sich über die Blätter. After me, what’ll you do? Der Song war im Viervierteltakt geschrieben. Keine Kreuze, keine Bs. Die Akkorde drängten sich so dicht, dass Jo sie allein vom Lesen nicht entziffern konnte. Sie nahm sich einen Stift und einen Schmierzettel, um die Akkordfolgen zu notieren. C-E-A-C … D-E …
Alles gehörte zusammen. Getrennt voneinander ergaben Text und Musik nur einen teilweisen Sinn. Erst durch die Verbindung von Text, Melodie, Harmonie und Arrangement wurde das Stück zu einem Ganzen.
After me …
Der Refrain setzte mit dem ersten Schlag ein. Die Melodielinie bewegte sich um C, begleitet von einem Bassmotiv.
He wants me …
Sie versuchte, den Akkord zu entschlüsseln. »Vienna?«
»Das ist ein D.«
Das brachte sie auch nicht weiter. Dann fiel ihr wieder Tasias manischer Monolog ein. Nicht nur A, H, C,sondern Do, Re, Mi.
»Bei der Solmisation mit Do-Re-Mi fängt man wo an?«, fragte sie. »Beim eingestrichenen C?«
»Nein. Das hängt von der Tonart ab. Man fängt mit dem ersten Ton der jeweiligen Tonleiter an. Also bei D, wenn die Tonart D ist. Bei G, wenn es in G ist.«
»Und der Song ist in C, oder? Keine Kreuze, keine Bs.«
Vienna schüttelte den Kopf. »A-Moll.« Ihr Telefon klingelte. Sie meldete sich und hörte zu. »Danke.«
Eilig notierte Jo:
Do = A.
Re = H.
Mi = C.
Fa = D.
Sol = E.
La = F.
Ti = G.
Do = A.
Vienna schaltete aus. »Die Zeit ist um, Rätselmeisterin. Lewicki ist hier.«
Ivory beobachtete, wie der schwarze Suburban vor einem noblen Bürogebäude im Bankenviertel bremste. Sie steckte achtzig Meter dahinter in dichtem Verkehr auf einer Einbahnstraße. Ein Muni-Bus versperrte ihr teilweise die Sicht. Der Wagen stoppte, und jemand stieg aus. Aber sie konnte nicht erkennen, wer.
Sie rief Keyes an. »Sacramento Street. Großer grauer Steinkasten. Der Suburban hat davor angehalten.«
»Sicher?«
»Absolut. Ich kann nicht genau sehen, was da passiert, weil mir ein Bus im Weg steht, aber …«
Das kurze Aufheulen einer Sirene ließ sie zusammenfahren. Hektisch blickte sie in den Rückspiegel. Direkt hinter sich entdeckte sie einen Motorradpolizisten, das Gesicht
maskiert mit einer verspiegelten Sonnenbrille. Sein Scheinwerfer blinkte auf.
»Ein Bulle, Scheiße!«
»Ganz cool bleiben. Leg das Handy weg. Vielleicht will er gar nichts von dir.«
Der Cop deutete auf sie.
»Er meint mich. Keyes, er hat mich durchschaut. Ich weiß nicht, wie …«
»Keine Panik. Ivory, du bist jetzt eine gesetzestreue Bürgerin und fährst los, wenn es grün wird. Ich bin schon unterwegs. Fahr einfach. Warte erst mal, vielleicht hat er es auf jemand anders abgesehen.«
»Nein, er meint mich. Wenn er mich anhält und meinen Führerschein sieht, weiß er gleich Bescheid. Das kann ich nicht zulassen, Keyes. Es ist so weit. Scheiße , es ist so weit.«
»Ivory, du …«
Sie warf das Telefon auf
Weitere Kostenlose Bücher