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Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)

Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)

Titel: Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Keller
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die zwei Türme mit ihren runden Spitzen.
    Je höher wir stiegen, desto unruhiger wurde Gilcris. Ich sah es am nervösen Flackern der Flammen zwischen seinen Panzerplatten und an der glühenden Luft, die er durch seine zusammengepressten Zähne ausstieß. Was auch immer er in der Festung finden würde, würde ihm zeigen, was mit seinen Eltern geschehen war.
    Die Festung besaß kein weiteres Tor, keine weiteren Verteidigungsvorrichtungen. Alle Mauern und Türme dienten nur dazu Räume zu beherbergen oder andere Mauern abzustützen aber nicht um Angreifer abzuwehren. Ich hatte mich geirrt: Das hier war keine Festung sondern ein Tempel.
    Wir stiegen eine weitere Flucht von Treppen hinauf und befanden uns danach in einem Vorhof zum zentralen Plateau, in dessen Mitte eine rußgeschwärzte Statue von Sigwar stand. Er hielt eine Hand erhoben, so als hätte er gerade einen Speer in die Festung hinein geschleudert. Seine Augen waren leer und in der dicken Metallhaut klafften Sprünge und Risse. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter und ich musste schlucken, um meine Kehle wieder frei zu bekommen. Sigwar so zu sehen verhieß nichts Gutes.
    Schweigend gingen wir weiter und erreichten so durch einen weiteren Torbogen den großen Innenhof, um den sich alle anderen Gebäude gruppierten. Drei Türme ragten darüber auf. Zwei von ihnen hatten wir bereits von weiter unten gesehen, denn sie trugen die runden Gebilde, die Augäpfel darstellen sollten, aber es gab zusätzlich einen dritten, der nur halb so groß war wie die beiden anderen und der mir auch während meines Fluges entgangen war. An seiner Spitze war nur noch ein heilloses Durcheinander an verbogenem Metall und zersplittertem Kristall zu sehen. Auch um den Fuß des Turmes herum war alles mit Splittern, Metallstangen und Trümmern bedeckt.
    Hund war der erste, der das Stöhnen wahrnahm. Er blieb stehen und spitzte die Ohren. Auch wir verharrten und tatsächlich konnten wir in den kurzen Pausen, die sich der Wind in seinem Spiel mit den Spalten und Vorsprüngen der Festung gönnte, eine Reihe von Tönen hören, die wie die begleitende Singstimme zum Klagelied des Windes klang.
    Vorsichtig näherten wir uns, verborgen im Schatten der hohen Mauern und erstarrten, als wir sahen, wer inmitten des Chaos sein einsames Lied sang: Es war ein gewaltiger Hürnin, der sogar den Halken um einen Kopf überragte. Die Mitte seiner Brust war von einem langen Speer durchbohrt, der hinter ihm in den Boden eingedrungen war und ihn so an Ort und Stelle festnagelte. Aber auch so hätte sich dieser Hürnin nicht mehr von der Stelle bewegen können. Seine Beine waren bis knapp unter seine Knie in den Boden eingesunken und an vielen Stellen sahen seine Hornplatten aus. als wären sie versteinert. Das Feuer zwischen ihnen war erloschen. Lediglich in seinen Augen glomm noch ein schwacher Schimmer und aus seinem Mund drang dunkler Rauch, wie von einer Glut, die in feuchtem Holz schwelt.
    Während wir anderen drei vorsichtig im Schutz der Schatten verharrten, traten Gilcris und der Halken vor den riesenhaften Hürnin, der von Sigwars Speer getroffen worden war.
    Ein einziger Blick auf ihn genügte um zu wissen, wer er war, was er getan hatte und warum er dafür mit dem Speer bestraft worden war.
    Die Hürnin standen Auge in Auge Chiludes, dem Verräter gegenüber. Und Chiludes sang wie noch nie zuvor jemand gesungen hatte und wie auch niemand mehr singen würde.
    Sein Lied hatte weder Melodie noch Worte. Es hatte weder Rhythmus noch Töne. Es bestand aus manifestiertem Schmerz, gehüllt in Bitterkeit und Wehmut.
    Chiludes Stimme war wie der Wind, der im Herbst alles Grün mit sich nimmt. Sie war wie der Grund des Meeres, den nie ein Lichtstrahl erreicht, wie das letzte Knistern der Sterne am Morgenhimmel.
    Mir stockte der Atem. Wie lange mochte Chiludes hier bereits reglos stehen, mit niemand anderem als dem Wind, der mit ihm sein melancholisches Duett sang? Wie lange mochte es her sein, dass er zum letzten Mal seine Flügel aufgespannt hatte?
    Wie Hund und ich besaß Chiludes Flughäute an kräftigen Schwingen. Eine von ihnen war ebenfalls vom Speer durchbohrt und um die Einstichstelle herum war sie so grau wie Stein. Aber er besaß auch eine Krone aus bläulich schimmernden Hörnern auf seinem Haupt und lange Haare, die wie Eis auf seinem Rücken lagen.
    Auch die Hürnin erlagen dem Zauber von Chiludes' Lied. Sie verharrten bewegungslos und warteten, bis er verstummte. Unendlich langsam

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