Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
Vom Netzwerk:
andere Schwester – Sœur Yolanthe war ihr Name – leise die Türe zum Skriptorium schloss. Roesia wusste nicht, ob sie sich an den Rat hielt, dem schrecklichen Anblick auszuweichen – in jedem Falle atmete sie nicht heftiger als zuvor, sondern blieb bewundernswert gefasst.
    »Gleich werden die anderen kommen«, meinte Yolanthe lediglich. »Man hat Euren Schrei bis in den Hof gehört. Was werdet Ihr ihnen dann sagen?«
    Roesia zuckte die Schultern. Gret schien noch nah, noch lebendig. Die Stunde, da sie mit ihr im Hof gestanden, war eben erst vorüber.
    Doch nun war es tot – dieses uralte Weiblein, das in Begleitung der Königin Isambour halb Europa durchquert hatte.
    Ein schrecklicher Laut fuhr über Roesias Lippen.
    Ob sie in die Hölle gekommen war, weil sie sich dem Christengott stets verweigert hatte? Oder ob Isambour, die man heilig nannte, ein gutes Wort für diese treue Begleiterin einlegte, die sie nicht wie Sophia im Stich gelassen hatte? Aber vermochte Isambour dort droben im lauen Himmelreich zu sprechen? Zu ihren Lebzeiten hatte Roesia nie auch nur ein Wort aus ihrem Mund vernommen... und manche behaupteten, dass das, was man an ihr als heilig benenne, in Wahrheit nur Schwachsinn sei.
    Sœur Yolanthe neigte sich über Roesia. Wiewohl ohne Wärme, gab ihr der starke Griff der fast Gleichaltrigen genügend Kraft, um wieder gerade zu stehen.
    »Der Anblick der Toten war gewiss schrecklich«, meinte sie, »aber Ihr müsst die Fassung wiederfinden!«
    Roesia nickte schwach, aber ihre Augen blieben leer. »Ja, ja ich weiß... ich verstehe nur nicht, warum das alles über uns kommt. So... so viel Tote...«
    »Mutter Äbtissin! Wir müssen jetzt die Ruhe bewahren!«
    »Wenn ich nur wüsste«, seufzte Roesia, »wenn ich nur wüsste, warum das alles hier geschieht.«
    Nachdem sie sie aufgerichtet hatte, hatte Yolanthe sie losgelassen. Nun berührte sie vorsichtig Roesias Schultern und streichelte vorsichtig darüber.
    »Es ist Sophia, die diese Heimsuchung über uns bringt«, stellte sie mit nüchterner, kalter Stimme fest. »Ja, es ist Sophia, die Schuld an all diesen Schrecknissen trägt...«
    Ob ihres bisher so bedächtigen Handelns und der sanften Berührungen hatte Roesia solch bittere Anklage nicht erwartet.
    »Wie kannst du so etwas sagen?«, fuhr sie auf. »Sophia war doch die Erste, die sterben musste! Wer immer die anderen auf dem Gewissen hat, hat womöglich auch sie...«
    Sie hielt inne, um das Schreckliche nicht aussprechen zu müssen.
    »Mag sein, dass sie zuletzt ein Opfer war«, erwiderte Yolanthe.
    »Allein, es war schon zu ihren Lebzeiten so: Wo immer sie erschien, wo immer sie mitzureden hatte – da stiftete sie Unruhe, Verwirrung, Hass. Sie war keine Frau des Friedens. Der gewaltsame Tod passt zu ihr!«
    »Was redest du denn da? In dieser Stunde ist es...«
    Yolanthes Griff wurde fester. »Gewiss will ich Euch nicht aufregen, Mutter Äbtissin. Das alles hier ist schwer genug. Aber alles, was ich über Sophia sage, ist wahr. Als ich Hofdame der Dauphine Blanche wurde, hatte sich Sophia zwar längst zurückgezogen. Ich habe nie gemeinsam mit ihr bei Hofe gelebt. Doch ich habe genügend Geschichten gehört – die Dauphine hat sie mir erzählt –, sodass ich weiß, wovon ich rede.«
    Roesia schüttelte den Kopf. »Was meinst du?«, fragte sie verständnislos. »Was sind das für Geschichten?«

Kapitel XII.
Anno Domini 1210
    Der Himmel war matt und sein Blau stumpf – auf der Tribüne jedoch war der Tag des Turniers ein leuchtender und schillernder.
    Goldplättchen, die auf den Stoff genäht waren, spiegelten das verwaschene Sonnenlicht; netzartige Perlenschnüre waren über die Kleider geworfen und schimmerten weißlich; Spangen, die die Pelze an der Brust zusammenhielten, und edelsteinbesetzte Broschen, die die Kleider zierten, leuchteten, als habe es Gold geregnet. Ein jeder – ob nun der Meister des Vorratskellers, des Mobiliars oder der Bäckerei, ob Frisurenmacher, Musiker oder Schreiber – zeigte, was er hatte, und schielte neidisch auf jene, die höheren Ranges und noch prächtiger ausgestattet waren.
    Unten am Turnierplatz wogte wiederum ein Meer aus Farben. Die Ritter trugen unterschiedlichste Wappen: schlichte Querbalken in Gelb und Weiß auf blauem oder rotem Grund, Rauten auf schwarzem, Kreuze auf violettem – aber auch Kronen, Tiere und Blumen. Dunkle Flecken waren einzig die schlicht gekleideten Mönche, die misstrauisch die Stirnen runzelten und sich im Stillen dachten,

Weitere Kostenlose Bücher