Die Chronistin
lasse ich mich von Frère Guérin zur schwachsinnigen Isambour schicken – indessen ich doch die Vertraute der Dauphine sein kann und über Frankreichs Zukunft mehr bestimmen als jemals er?
Blanche musterte sie aus den geröteten Augen, als ahnte sie von ihren kühnen Gedanken.
»Man sagt Euch nach«, murmelte sie eben, »dass Ihr nicht nur der Heilkunde mächtig seid, sondern vieler Wissenschaften.«
»So ist es«, gab Sophia nicht ohne Stolz zurück. »Und gerne rate ich darum: Vertieft Euch in Bücher, bildet Euch, sucht Zerstreuung in der Gelehrsamkeit – das ist in den Augen des Königs gewiss ungefährlich!«
»Mit Eurer Hilfe?«
Sophia lachte gleichermaßen bitter und befreit.
»Ich habe mir stets ein Recht genommen, mein Leben selbst zu bestimmen. Warum sollt Ihr nicht auf Gleiches pochen? Wenn Ihr wollt, stehe ich ab heute an Eurer Seite – und kann Euch gewiss manches lehren, was inmitten des geschwätzigen, ränkeschmiedenden, buckelnden Hofs nützlich ist.«
Es war später am Tag, beinahe Abend, und man hatte den Tisch im Gemach der Dauphine gedeckt, als würde man sich zum feierlichen Bankett rüsten.
Der Tisch war mit grünen Zweigen, Kränzen und Veilchen geschmückt. Daneben standen zwei Wasserkrüge, ein vergoldeter Kelch mit Wein, Schalen für Konfekt und Salzbehälter aus Silber. An Blanches Platz lag entrindetes Brot bereit – als Unterlage für die Speisen.
Sophia umschritt die Tafel. »Deckt auch für mich!«, befahl sie herrisch.
Eine der Dienstbotinnen hob fragend den Blick, nicht sicher, ob der herrischen Fremden dieser befehlende Ton zuzugestehen war. Eine andere nickte ihr unauffällig zu, auf dass sie gehorchte – wandte sich freilich bald selbst an Sophia.
»Nur selten geschieht’s, dass die Dauphine sich an die Tafel setzt und isst. Sie hat das Wochenbett bisher nicht verlassen, und das Einzige, wonach sie lechzt...«
»Ich weiß, ich weiß«, unterband Sophia schnell die Rede. »Sie begehrt Oliven und Käse, aber weil beides nicht zu kriegen ist, so verweigert sie des Öfteren die übrigen Speisen. Aber heute ist es anders. Blanche wird aufstehen. Und sie wird essen – an meiner Seite.«
Anno Domini 1245
Damenstift zu Corbeil
Roesia, tränenblind, übergab sich, noch ehe sich erste Schritte der Grauensstätte näherten. Sie würgte das trockene Brot hoch, das sie am Morgen zu sich genommen hatte und das nun im Mund wie modriger Schlamm schmeckte. Gerne spuckte sie es aus – hoffend, sie möge auch das Bild erbrechen, das sich ihr in der Schreibstube geboten hatte.
Gret.
Gret auf einem Stuhl hockend, gefällt wie ein alter, morscher Baum, den Nacken nach hinten geworfen.
Als sie Cathérine gefunden hatten, war jene bleich gewesen und die Lippen verschlossen. Grets Gesicht hingegen war blau angelaufen, und die aufgequollene Zunge, mit der sie Zeit ihres Lebens stets so viele, schnelle Worte gemacht hatte, hing schief aus dem Mund heraus und reichte bis zum Kinn. Ihre Augen waren geöffnet, der Blick starr und so verschlagen wie stets, als könne sie selbst mit einem qualvollen, unfreiwilligen Tod Roesia noch eins auswischen.
Ich muss die Türe des Skriptoriums schließen, dachte Roesia, ich muss verhindern, dass es all die anderen sehen, ich muss irgendetwas dagegen tun... oh, welch scheußlicher, grässlicher Anblick!
Noch ehe sie es aber vermochte, den würgenden, sich windenden Leib aufzurichten, wurde hinter ihr eine Stimme laut.
»Mutter Äbtissin!«, rief eine der Schwestern. »Mutter Äbtissin! Man hat Euch auf entsetzliche Weise schreien hören – was ist geschehen? Habt Ihr Gret gefunden?«
Roesia rieb sich die Tränen aus den Augen und versuchte, die andere zu erkennen. Zunächst hatte sie gehofft, dass Sœur Eloïse die Erste wäre, mit der sie das Grauenhafte besprechen konnte; nun war sie immerhin zufrieden, dass eine der Älteren, Besonnenen vor ihr stand und keine der Jungen, die sich wie gackernde Hühner gebärdeten.
»Mach schnell die Türe zu, aber blick nicht in den Raum hinein!«, befahl sie, und als der fragende Blick der anderen sie traf, fügte sie mit rauer Stimme hinzu: »Ja, ich habe Gret gefunden. Sie hockt da drinnen mit einem Seil um den Hals. Jemand... jemand hat sie erwürgt wie die anderen.«
In ihrem Gaumen schmeckte es giftig bitter. Sie fühlte, wie der gelbe Speichel ihr über das Kinn rann, aber sie hatte nicht die Kraft, die Hand zu heben und ihn fortzuwischen.
Blicklos hockte sie neben dem Erbrochenen, indessen die
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