Die Chronistin
hatte – dem kleinen Philippe, den sie mit einem halben Jahr nur mühselig von der Schwelle des Todes zurückgeführt hatte.
Nun aber, da das erbärmliche Heulen des Mannes den ganzen Hof erfüllte, zögerte sie nicht, ihm zu Hilfe zu eilen. Schon hatte sie ihn erreicht, sank neben ihm auf den von Pferdehufen aufgewühlten Boden und besah sich die schreckliche Wunde aus nächster Nähe.
Der Anblick war furchterregend. Die Spitze der Lanze war nicht nur in das Auge eingedrungen, sondern so tief im Kopf verschwunden, dass sie auf der anderen Seite wieder herauskam. Dass der Pechvogel, dem das Blut in den eigenen Mund tropfte, noch zu schreien vermochte, stimmte sie verwundert. Freilich wurde aus dem Gebrüll schon ein mageres Ächzen. Das noch heile Auge überdrehte sich ins Weiße, und er ließ den Kopf niedersinken, auf dass ihn eine gnädige Schwärze von allen Schmerzen befreite.
»Nicht!«, rief Sophia entschlossen. »Zieht ihm die Lanzenspitze nicht aus dem Kopf! Sie verhindert, dass er noch mehr Blut verliert. Seht lieber zu, dass Ihr ihn an einen ruhigen Ort bringt, wo ich ihn untersuchen kann!«
Rasch hatte sich ein kleines Grüppchen um sie gebildet, das auch den Blick auf die Tribüne und Blanche versperrte. Der unglückliche Thibaud de Conches, der Albert die Wunde zugefügt hatte, kam mit bleichem Gesicht und schlotternden Knien, desgleichen einige Knappen, von denen einer sich vor Schreck erbrach und ein anderer zu heulen begann, schließlich mehrere Männer, deren Ämter Sophia nicht kannte, deren edle Gewänder jedoch verrieten, dass sie zu den Erlesenen des Hofes zählten.
Einer von ihnen trat vor, als sie nach dem Gesicht des Verwundeten tasten wollte. Zunächst dachte sie, er wolle ihr die Arbeit erleichtern, indem er die störenden anderen von ihr wegdrängte. Dann jedoch verspürte sie seinen festen, schmerzhaften Griff an ihrer Schulter. Entschieden zerrte er sie von dem Blutenden fort.
»Was tut Ihr denn? Ich will doch nur...«, versuchte sie sich zu verteidigen.
Die knurrende Stimme des Mannes war noch unhöflicher als sein brutaler Griff.
»Schert Euch hier fort, Sophia de Guscelin! Ihr habt hier nichts zu suchen!«
Sie trugen den Verletzten in den Königspalast, wo alsbald die Ärzte des Königs ihn in Empfang nahmen und heftig gestikulierend die Behandlung besprachen. Sie standen bereit, um kleinere Wunden, die bei jedem Lanzenstechen zu erwarten waren, zu versorgen – Prellungen und Verstauchungen, Schürfwunden und Blutergüsse. Albert de Tournais schlimme Verletzung hingegen machte sie zaudern. Keiner von ihnen dachte, den Blutfluss zu stoppen.
»Seid Ihr von Sinnen?«, rief Sophia keifend. Sie war trotz des strikten Befehls, es zu unterlassen, gefolgt – wurde jedoch immer noch von dem gestrengen Fremden davon abgehalten, sich selbst des Kranken anzunehmen. »Ihr müsst auf die Wunde pressen, ansonsten verblutet er! Am besten brennt Ihr sie mit einem Glüheisen aus.«
»Die Herren brauchen Eure Hilfe ganz gewiss nicht!«
»Wenn sie sich derart als Stümper gebärden, so denke ich doch!«
»Niemand braucht Euch hier, ma Dame!«, zischte der Unbekannte. »Ihr seid eine Schande für den ganzen Hof!«
Sophia starrte ihn verständnislos an. Ein leises Stöhnen ließ sich von dem Verwundeten vernehmen, der zwischenzeitig sein Bewusstsein wiedergefunden hatte, doch erstmals achtete sie nicht auf ihn, sondern nur auf die schlimme Anklage.
»Wie wagt Ihr, mit mir zu sprechen? Ich bin die engste Vertraute der Dauphine und...«
»Eben deswegen!«, unterbrach der Mann, in dessen Mundwinkel sich ob seines Ärgers gelbliche Speicheltropfen bildeten. »Nur unnütze Flausen setzt Ihr der Prinzessin in den Kopf! Oh, wenn es nur darum ginge, dass sie zu teure Kleider trägt und den Köchen befiehlt, sonderliche Speisen, die man hier nicht kennt, zu bereiten. Nun, alle Welt weiß, dass man den Weibern manche Dummheiten erlauben muss. Ihr aber spornt sie an, Bücher zu lesen... sich in Politik einzumischen... dem Gatten einzureden, wen er in Abwesenheit des Königs zu empfangen hat und...«
Er brach ab, um zu bezeugen, dass solches Gebaren zu empörend war, um es in Worte zu fassen. Sophia lächelte schmal. Bis jetzt war sie nicht gewiss gewesen, dass ihre Belehrungen derart offenkundige Folgen gezeitigt hatten.
»Hört auf zu lachen!«, zischelte der Mann. »Ich bin Henri Clément, der Sohn von König Philippes Erzieher, und wenn er nicht bei Hofe weilt, so bin ich es, der ihm von allen
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