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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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unwirsche Handbewegung, als könnte sie damit das Geräusch vertreiben. Vor kurzem hatte sie einen Text von Mohammed ben Musa gelesen, den Théodore nach Haus gebracht hatte. Die üblichen Zahlen I, II und III waren darin von fremdartig aussehenden – nämlich 1, 2 und 3 – ersetzt. Und das war nicht das Ungewöhnlichste: Mohammed ben Musa sprach von einer neuen Zahl, die es im bisherigen System nicht gäbe.
    »Nimm sie sofort von meinem Gesicht fort! Wie hast du es geschafft, dieses Untier zu zähmen?«
    »Hach!«, entfuhr es Sophia, und sie presste beide Hände gegen die Ohren.
    Diese neue Zahl, so Mohammed ben Musa, käme noch vor der Eins. Ihr Wert sei nichts, und doch habe sie einen unverzichtbaren Platz im Zahlensystem. Sie gehe allen anderen voraus und bleibe bei jeder Rechnung erhalten. Denn wenn man V weniger V rechnen würde, so ergebe das 0.
    Allerdings, dachte Sophia, sagen die großen Theologen nicht alle, dass so wie die Eins die Mutter aller Zahlen Gott der Vater aller Dinge sei? Stellt man der Eins aber die Null voraus – könnte es dann sein, dass das Nichts, das vor der Schöpfung steht, auch eine Macht ist, die vor Gott kommt?
    »Die Ratte stinkt!«
    Jetzt reichte es ihr endgültig. Sophia stürzte aus einer jener Kammern, in denen Bertrand de Guscelin einst seine Rezepte für das Lebenselixier ausprobiert hatte und in die sie sich in den letzten Jahren für ihre vielfältigen Studien zurückgezogen hatte, nahm zwei Stufen auf einmal und öffnete mit lautem Stoß die Tür zum Saal des Hauses.
    »Schluss jetzt mit dem Gekreisch!«
    Indessen Cathérine verstummte – der plötzliche Anblick der sonst strikt zurückgezogenen Mutter verstörte sie –, erfasste Sophia den Grund für den Tumult und furchte die Stirne. Nicht nur die ungelehrige, dreiste Tochter, mit der sie in den letzten drei Jahren kaum fünf Sätze gesprochen hatte, säte den Unfrieden, sondern ein anderer, der sich selbst als Théodores Freund und Kollegen bezeichnete, den sie jedoch nicht für wert befand, auch nur über die Schwelle ihres Hauses zu treten.
    »Christian Tarquam!«, bellte sie. »Was habt Ihr hier zu suchen?«
    Anstatt sich zu verteidigen, lächelte der junge Mann spöttisch in ihre Richtung und vollzog hernach eine groteske Verbeugung.
    Der Inhalt des Amuletts, das um seinen Hals hing und so groß war wie eine Faust, klapperte. Dies war nicht das einzig Sonderliche an seiner Kleidung. Wohingegen Théodore, nachdem er die Niederen Weihen abgelegt hatte, mit Tonsur und schwarzem Umhang einem künftigen Priester glich – so wie es für einen guten Studenten üblich war –, liebte Christian bunte Gewänder und glich damit einem Vagabunden. Heute trug er Gelb und Rot und darüber einen Mantel aus Ziegenhaaren. Viele hielten ihn für einen Gaukler, von dem Scherze und Spaß zu erwarten waren und vor dem man sich zugleich zu fürchten hatte, denn schließlich – so wusste jeder in ganz Paris – kamen die Gaukler aus der Dämonenwelt. Wenn sie gingen, so hieß es, hinterließen sie keine Abdrücke im Boden.
    An Christians statt antwortete Cathérine.
    »Er hat eine zahme Ratte, Mutter«, erklärte sie weinerlich und gleichsam trotzig, »sie wohnt irgendwo in seinen stinkenden Gewändern und klettert über seinen Körper. Und eben hat er das grässliche Tier am Schwanz gepackt und sie mir vors Gesicht gehalten.«
    Christian lächelte fortwährend und deutete erneut eine Verbeugung an. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, griff er nach seinem scheppernden Amulett. »Und da drinnen«, erklärte er belustigt, »sammele ich Futter für das Tier.«
    »Oh, du erbärmlicher Schuft!«, rief Cathérine. »Es ist ekelhaft...«
    »Schluss jetzt!«, unterbrach Sophia sie scharf. »Halt endlich dein Maul! In meinem Haus wird nicht geschrieen!«
    Die Tochter erbleichte und presste die Lippen aufeinander. Missmutig starrte Sophia sie an – zwar froh, dass das kindische Geplärr endgültig verstummt war, aber zugleich wissend, dass sie Cathérine eigentlich Recht geben sollte.
    Christian Tarquam war tatsächlich ein Schuft.
    Sie verstand nicht, warum Théodore ihm nicht nur seine Nähe gestattete, sondern diese merkwürdige Kameradschaft zu suchen schien. Wiewohl er als vornehmer Gelehrter gewiss nicht auf diese räudige Figur angewiesen war, gingen sie manchmal gemeinsam zu den Vorlesungen in der Rue de Feurre, spazierten disputierend im Garten auf und ab, und schließlich lud Théodore Christian regelmäßig ein, auf dass dieser

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