Die Chronistin
an – sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das Mädchen jemals berührt hatte, es sei denn, um sie zu schlagen oder um sie von Théodore wegzuzerren.
Jetzt wünschte sie sich nichts mehr, als dass das Mädchen sich an seinen Arm heftete und ihn am Gehen hinderte.
»Warum sollte er auf mich mehr hören als auf dich?«, fragte Cathérine weinerlich und über das Bündnis, das die Mutter mit ihr suchte, überrascht.
Hastig ließ Sophia die Hand fallen. Sie wähnte sich ertappt, von der blinden, unverständigen Tochter bloßgestellt. Unmöglich war es ihr, eine Antwort zu geben, die der Wahrheit entsprach.
Jene nämlich war, dass sie gar nicht erst versucht hatte, Théodore den Entschluss auszureden. Denn als er sie um Frieden bat, um Versöhnung, als er sie aus schwermütigen Augen anblickte und sein Gesicht jäh so schmal schien wie in Kinderzeiten, so waren ihr alle Worte der Mahnung und des Widerspruchs in der Kehle stecken geblieben.
Sie hatte nichts sagen können und war schließlich von ihm zu Cathérine geflohen, auf dass ihr sein strahlendes Gesicht nicht doch noch ein verräterisches Nicken abrang.
»Was immer ich ihm rate«, versuchte sie der Tochter zu erklären, »wird auf taube Ohren stoßen. Er würde denken, dass ich ihn erneut zu etwas zwingen wollte, was allein mich, nicht aber ihn glücklich macht. Du aber warst ihm stets eine liebevolle Schwester. Du hast versucht, ihm ein warmes, heimeliges Zuhause zu bieten. Und deswegen...«
Cathérine weitete die rotverschwollenen Augen ob des unerwarteten Lobes und der weichen Stimme einer stets so harten Mutter.
»Du musst sagen, dass du ihn brauchst, dass du ohne ihn nicht leben kannst, dass er dich nicht bei mir zurücklassen darf...«
»Mutter!«
»Du liebst ihn doch! Du liebst ihn doch fast so, wie ein Weib es tut, nicht wie eine Schwester!«
»Mutter!«, wiederholte Cathérine. Flecken übersäten ihr Gesicht.
»Es ist auch so...« Sophia stockte, haderte mit sich, wusste nicht, wie weit sie gehen sollte. Fest stand, dass sie in Cathérine mehr zeugen musste als nur ein jämmerliches Schluchzen. Ihre Verzweiflung und zugleich ihr inbrünstiges Festhalten am Bruder sollten derart wachsen, dass er nicht nur zum gnädigen Mitleid veranlasst wäre, sondern zu echter Rührung.
Théodore ist nicht sonderlich stark, dachte sie, wie oft konnte ich ihn bewegen, sich meinem Willen zu fügen. Wird er sich nicht umso mehr von Cathérine erweichen lassen, wenn ihre Welt durch so viel mehr in Unordnung gerät als nur durch seinen möglichen Fortgang? Und ihr obendrein nicht länger verboten ist... ihn mit ganzer Seele zu lieben?
»Es ist auch so«, setzte sie erneut an, »dass du dich nicht schämen musst, wenn du ihm dein Herz schenkst.«
»Hör auf!«, zischte Cathérine unbehaglich. »Was mich mit ihm verbindet, verstehst du nicht, und es geht dich auch nichts an!«
»Oh doch, das tut es, denn hör mir zu. Es gibt etwas, was du nicht weißt – über dich und über Théodore.«
Cathérine sprang auf. »Ich weiß vor allem, dass Théodore stets mehr warme Worte für mich übrig hatte als du. Ihn störte es nicht, dass ich nicht lesen kann, dass ich so oft nicht verstand, was er sagte.«
»Ja gewiss«, gestand Sophia ein und gab sich tief beschämt, »vielleicht war’s tatsächlich ich, die dich in seine Arme trieb. Doch das ist gut so. Denn ich will dir sagen: Théodore... Théodore ist nicht dein Bruder.«
Der alte Ärger auf die Mutter war in Cathérine so weit geweckt, dass sie kaum auf ihre Worte achtete und noch weniger auf das, was sie verhießen. Mürrisch schritt sie auf und ab. »Was soll das heißen?«, rief sie. »Théodore ist der Sohn von Mélisande und Bertrand de Guscelin! Und du warst die Gattin von eben diesem!«
»Ja«, sagte Sophia schlicht, packte Cathérine an den Schultern und zwang sie, sie anzusehen.
Selten hatte sie das Mädchen so gründlich gemustert.
Das dünne, blonde Haar. Die blassblauen Augen. Die sinnlichen Lippen. All das stammte von Frère Guérin.
Sie wollte die Wahrheit mit kühler Berechnung aussprechen, doch als sie damit begann, fühlte sie, wie ihr die Stimme zitterte, wie alter Kummer ihr das Reden schwer machte.
»Ja, Bertrand war mein Gatte. Aber er ist nicht dein Vater.
Einst sagtest du, dass Weiber wie ich Gott ein Gräuel wären – und wusstest nicht, dass ich mich einer noch größeren Sünde schuldig gemacht habe als nur der Gelehrsamkeit. Ich... ich habe die Ehe gebrochen. Ich bin bei
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