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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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als die schwerfällige Mutter zwei von Berthas Söhnen erschienen. Sie hatten genug vom Streit gehört, um das vorlaute Mädchen, das niemals recht in die Familie hatte passen wollen, für seine Unverschämtheit zu bestrafen.
    Sophia konnte schneller laufen als die beiden, weil es ihrer schmaleren Gestalt besser gelang, sich durch die Mengen durchzuzwängen. Schwierig war nur, festen Tritt zu finden auf dem schleimigen Boden. Kaum eine Straße war mit Pflastersteinen ausgelegt – die meisten zerliefen im schwülen Sommer zu einem brodelnden, schmierigen Fluss, der wie ein Abort roch: Aller Unrat wurde aus den Festern ebenso sorglos hinausgekippt wie der Inhalt der Nachttöpfe.
    Um nicht auszurutschen, hatte Sophia ihren Blick auf den Boden gerichtet, was sie verleitete, vom rechten Wege abzulassen. Wohl trachtete sie, Arnulfs Heimstatt zu erreichen, weil jene die einzig mögliche Zuflucht war – doch das zornige Rufen jener Tölpel, die Berthas Leib hervorgebracht hatte, als dieser vielleicht weniger fett und weniger aufgeschwemmt, aber nicht weniger dumm gewesen, jagte sie ohne Planung.
    Bald wusste sie nicht, wohin sie geraten war, sondern nur, dass die Verfolger sich an der Jagd erfreuten. Sie schmähten das hochmütige Mädchen, das wie steif gefroren die Hausarbeit verweigerte, die Nase hoch trug und sich für Besseres hielt wie einstmals der verkrüppelte Vater, schon viel länger, als sie geahnt hatte. Nie hatten sie die hirnlosen Gestalten eine Gefahr gedeucht, doch nun, da sie von der schrillen, gekränkten Mutter aufgehetzt waren, wollte sie ihnen nicht in die Hände geraten.
    Der salzige, faulige Algengeruch verriet das nahe Meer, doch anstatt schließlich die Weite des Hafens zu erspähen, lief sie einer dunklen Wolkenwand entgegen. Zuvor schon hatte sie das Gewitter grollend nahe gehört, nun begann es sich in ersten spitzen Blitzen zu entladen.
    Sophia fühlte, wie der Schweiß von ihrer Stirne tropfte, und zugleich, wie sich frierend erste Härchen aufrichteten. Wo eben noch Menschen gestanden und sie begafft hatten, sah sie nun verschlossene Türen. Wenn der Himmel grollte, so ging die Mär, waren da Dämonen miteinander in Streit geraten. Ratsam war es, sich vor ihnen zu verstecken, auf dass nicht einer ihrer Fausthiebe versehentlich den Falschen traf.
    Sophia zögerte, nicht gewiss, ob der Vettern Angst vor dem Gewitter stärker war als der Wunsch, sie zu verprügeln. Als sie sich umdrehte, hörte und sah sie nichts mehr von ihnen – freilich auch, weil sich aus der nachtschwarzen Wolkenwand nun jählings Regen ergoss. Er prasselte so fest auf sie ein, dass sie kaum Atem fand, und verwandelte die zähe Straße in einen stürmischen Fluss. Schon spürte sie die Beine darin versinken – verfaultes Obst, das vom braunen Wasser mitgerissen wurde, stieß daran an, ein totes Huhn, das eben noch jemand hatte rupfen wollen, schließlich gar ein paar spitze Nägel, womit ein Schuster das Schuhwerk zusammenflickt.
    Mühsam kämpfte sich Sophia zu einer Hauswand vor. Sollte sie den Heimweg versuchen, auch wenn jener geradewegs in ihrer Vettern rohe Arme führte? Sollte sie nach Arnulfs Haus Ausschau halten?
    Dass sie nicht wusste, was sie tun sollte, stimmte sie nicht nur mutlos, sondern auch ungehalten. Lauter noch, als dass das Unwetter auf sie einströmte, plärrte sie jäh ins donnernde, blitzende Leere: »Was hab ich’s Not, vor dieser stinkenden Vettel fortzulaufen? Was muss ich mich vor geistlosen Tölpeln fürchten? Was habe ich dem ängstlichen Arnulf Furunkel auszupressen, auf dass er mich rette? Was musste ich mich Griseldis andienen und mich von Mechthild schikanieren lassen? Weiß denn die Welt nicht, wer ich bin, was ich kann und was mir zusteht?«
    Sie atmete erschöpft. Um neben all dem anderen Übel nicht auch noch zur Tatenlosigkeit verdammt zu sein, lief sie weiter, folgte den leeren, sich verzweigenden Gassen, indem sie die Wahl danach ausrichtete, wie tief ihre Knöchel im Schlamm versanken, und erreichte so – allein aus zufälliger Fügung, nicht aus bestimmter Orientierung – Arnulfs Haus.
    Die Haare waren triefend nass, doch das Wasser tropfte nicht farblos, sondern schlammig braun von diesen. Die Kleidung war aufgeweicht.
    Sie wollte verschnaufen, ehe sie klopfte und um Hilfe bettelte.
    Doch als der Regen lichter wurde, war sie nicht länger allein im ausgestorben scheinenden Lübeck.
    Die dreisten Vettern waren vom Unwetter überrascht worden wie sie, hatten den Weg nach Hause

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