Die Chronistin
ihr festgeklammert und den Namen »Ragnhild« zu sagen versucht hatte, verblasste.
Anderes setzte ihr viel mehr zu als die Vergangenheit. Denn wiewohl sie sich anfangs begeistert auf Bertrands viele Bücher gestürzt hatte – darin vertieft, war ihr gleichgültig, dass sich nicht nur diese in seinem Haus befanden, sondern ein Geheimnis, über das die dunkle, strenge Isidora wachte –, musste sie alsbald gewahren, dass sie nur einem Thema galten: der Medizin.
Vielleicht hatte Bertrand auf der Suche nach dem Lebenselixier zunächst vermeint, dass Ärzte die besten Ratgeber und Helfer seien – ehe er gewahr wurde, dass sie den menschlichen Leib nur von Krankheit befreien konnten, nicht vom Tod.
Sophia hingegen, die schon im Kloster gehadert hatte, in die Krankenstube verbannt zu werden, anstatt sich der Philosophie und Theologie weihen zu können, wollte mehr erfahren als nur über die Methoden der Heilung.
Freilich, was sie darüber las, war mehr, als jemals eine gute Krankenschwester wie Cordelis wissen konnte: Da gab es Theophilos, der im 7. Jahrhundert in Byzanz gelebt hatte und medizinische Kenntnisse aus dem Altertum überliefert hatte. Die Practica Brevis und Passionibus Mulierum Curandorum von der berühmten Medizinerin Trotula. In Arabien galt ein gewisser Tabit ib Qurra als großer Gelehrter, der als Erster die Behauptung aufgestellt hatte, wonach manche Tage günstiger für den Heilungserfolg wären als andere. Fragmente von Galen, die mit arabischen Kommentaren versehen waren, und Abulcasis, von Gerhard von Cremona übersetzt, rundeten das überlieferte Wissen ab. Oft waren neben die Texte Bilder gemalt, die lächerlich und fehlerhaft waren, da der dienstbeflissene Kopist vom menschlichen Körper wenig verstand. (Die Buchstaben reizten Sophia freilich mehr als die Bilder – bald ging sie dazu über, sie im Stillen zu verschlingen, das tacite legere, das stumme Lesen praktizierend, das im Kloster noch bei Strafe verpönt gewesen war.)
Und dennoch, und dennoch: Wie sollte ihr es gelingen, in allen Wissenschaften gelehrt zu sein, wenn die anderen doch so sträflich vernachlässigt wurden? Wie den Wissensdurst auch in den übrigen Disziplinen stillen?
Abhilfe kam von gänzlich unerwarteter Seite.
Eines Tages, da Sophia in Schriften vertieft und in Raum und Zeit verloren saß, drang mitten in die angenehme Ruhe ein spitzes, hohes Kreischen. Es klang fremd in dem ansonsten totenstillen Haus – und umso unangenehmer, weil der Laut einem Kind entstammte.
Zuerst wähnte Sophia den Lärm von der Straße kommen.
Dann fiel ihr ein, dass seit einer Woche Bertrands kleiner Sohn bei ihnen lebte. Théodore entstammte der Ehe mit der wunderschönen Mélisande und hatte seine Kindheit nach deren Tod bei einer Schwester seines Vaters zugebracht – zuerst, weil Bertrand befand, er sollte in Frankreich leben, nicht in der gefährlichen Hitze des Heiligen Landes, und später, nach seiner Heimkehr, dass er zu klein wäre, um ohne fürsorgliche Frauenhand auszukommen. Nun aber hatte er sein zehntes Jahr erreicht und schien alt genug, um in seines Vaters Haus zurückzukehren.
Sophia hatte bislang nicht mit diesem Umstand gehadert. Beim ersten Abendessen hatte sie in die blauen, verängstigten Augen eines verstockten, schweigsamen Kindes geblickt und sich sicher gewähnt, dass er sie nicht stören würde.
Jetzt aber tat er es mit wildem Geschrei.
Oh, hätte man ihn nicht bei Adeline belassen können!, dachte Sophia ungeduldig. Zunächst hoffte sie, Bertrand selbst würde sich gestört fühlen und den Sohn zur Ruhe erziehen. Dann stand sie ärgerlich auf, folgte dem Geschrei und gelangte bis in den Garten.
In dessen Mitte stand Théodore, bemüht, ein schweres Schwert zu heben, das er in der Waffenkammer seines Vaters gefunden hatte, umringt von Dienstleuten, die ihn beglotzten und ihn nicht davon abzuhalten wagten. Das Schwert hatte einen schweren Griff aus Gold, der mit leuchtenden Edelsteinen besetzt war, und Sophia fragte sich, wie er es aus dem Ledergurt hatte ziehen können.
»Ich will Ritter werden!«, schrie Théodore. »Ich will Ritter werden!«
Sophia hatte ihn bislang nur sitzen sehen. Jetzt erst, da er stand und das Schwert zu halten suchte, erkannte sie die traurige Wahrheit über den Jungen.
Ihr Mitleid blieb begrenzt.
»Lass das Schwert fallen!«, zischte sie streng über den ganzen Hof hinweg. »Das kann ich dir hier und heute sagen – dass du nie ein Ritter wirst.«
Théodore war ein hübsches
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