Die Chronistin
die eifersüchtige Sarazenin, eines Tages lauernd, und ihr heiles Auge funkelte streng. Üblicherweise fühlte sich Sophia in ihrer Gegenwart und ob der bedrohlich dunklen Binde unbehaglich. Heute aber ging ihr nur durch den Sinn, wie lachhaft es war, dass in Bertrands Haus kaum einer einen heilen Körper zu besitzen schien: Isidora war halb blind, Bertrand nicht mannbar (zumindest gab er solches vor), Théodore schließlich verkrüppelt.
Sie grinste der Sarazenin spöttisch ins Gesicht. »Hier gibt es doch keinen, der sich um den Knaben schert. Was soll ich ihm nicht einen Weg weisen, wie er sein Leben führen kann?«
Isidora nickte düster. »Ja... ja, Ihr habt Recht. Mélisandes Unglück lastet auf der Familie. Doch es wird alles gut, wenn Bertrand nur erst... im Augenblick kann er sich nicht seines Sohnes annehmen, weil er...«
Sie sprach verwirrend, erneut das Geheimnis andeutend, das irgendwo im oberen Stock in einer der vielen Kammern verborgen war. Sophia war seiner überdrüssig – mit all dem Dunklen, Verzauberten, Verwünschten wollte sie nichts zu tun haben. Ungern erinnerte sie sich an den Fluch, den Gret über sie ausgesprochen hatte. Gleichwohl es ihr Genugtuung bereitete, dass er sich nicht erfüllt hatte, klang ihr manchmal das Drohen in den Ohren nach – wie auch Isambours Schreien.
»Woran«, fragte Sophia, um die düstere Isidora abzulenken, »woran ist Mélisande eigentlich gestorben?«
Die Sarazenin aber zuckte umso mehr zusammen. »Wagt nicht, das Schreckliche auch nur zu erwähnen! Es ist verboten, hier...«
»Lasst es gut sein!«, unterbrach Sophia sie herrisch. »Ich will’s auch gar nicht wissen. Was Bertrand treibt und was Ihr vor mir geheim zu halten wünscht, geht mich nichts an. Lasst mich nur in Ruhe mein Leben hier führen – und erlaubt auch Théodore, davon Nutzen zu ziehen.«
»Was Ihr tut, ist mir gleich«, stimmte Isidora wieder ruhig und düster an. »Freilich frage ich mich, ob allein Euer Hiersein den schrecklichen Fluch nicht verstärkt, der über uns liegt, und ob nicht Mélisandes Sohn anderes verdient, als von Euch gepeinigt und getrieben zu werden. So bleich kommt er aus den Schulstunden, dass man meint, ein böser Geist sei ihm auf den Fersen, und wenn er dann...«
Wieder brach sie ab, diesmal jedoch nicht, um mit ihrem Schweigen das Gewicht des Geheimnisses anzudeuten, sondern weil eine hohe, schrille Stimme sie unterbrach. Es war Théodore, und er schrie so laut wie an jenem Tag, da Sophia ihm das Schwert entwendet hatte – diesmal aber nicht trotzig, sondern angsterfüllt.
»Zu Hilfe!«, tönte er. »Zu Hilfe! Magister Jean-Albert ist Schreckliches geschehen!«
Anno Domini 1245
Damenstift zu Corbeil
Roesia und Gret standen unbeweglich im Hof, indessen Nebel vom Boden aufstieg und wie Schimmel die klare Luft zerfraß. Ob des Fehlens jedweder Regung glichen sie zwei entlaubten Bäumen, gleich groß gewachsen und deswegen einander ebenbürtig.
Roesia war die Tochter eines normannischen Grafen, Witwe eines französischen Fürsten und Äbtissin des Damenstifts.
Und Gret, wiewohl an Rang der anderen bei weitem unterlegen, vermochte durch ihr hohes Alter, ihren immer noch regen Wortfluss und schließlich durch ihr trotziges und stolzes Beharren auf dem heidnischen Glauben ihrer Kindheit fehlende Herkunft wettzumachen.
Gewiss, es war vor allem ihre Neigung zur Ketzerei, die im Damenstift gefürchtet wurde. Doch zu der Angst – ihrer Natur nach ein Gefühl der Schwachen – gesellte sich keine Verachtung. Gret hatte die verstorbene Königin Isambour ein Leben lang begleitet, hatte ihr mehr Treue erwiesen als die wankelmütige Sophia, die ihren Verrat in jungen Jahren niemals hatte ausmerzen können, und war allein durch die Aura dieses heiligengemäßen Lebens über die anderen Schwestern erhaben.
»Also«, drängte Roesia und wiederholte ihre vorige Frage. »Ist dein Zorn auf Sophia in den letzten Jahren gewachsen? Hast du sie getötet?«
»Nein«, antwortete Gret kühl, »nein, ich habe mit ihrem Tod nichts zu tun. Und du irrst auch, wenn du denkst, mein Hass auf Sophia hätte sich im Laufe des Lebens noch vergrößert. Das Gegenteil ist der Fall.«
Roesia starrte misstrauisch. Sie hatte Gret nie gemocht, weil deren halb vom Augenlid verborgener schräger Blick stets undurchdringlich war. »Ich kann mich nicht erinnern, dass Ihr Versöhnung gefeiert hättet.«
»Oh nein, gewiss nicht!«, lachte Gret. »Wir gingen uns aus dem Weg, so gut wir konnten
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