Die Chronistin
nie – du bist ein Krüppel. Versuch’s stattdessen mit Gelehrsamkeit.«
Von nun an nahm sich Sophia Théodores Erziehung an und folgte damit eigenen Interessen.
Ein Lehrer ward ins Haus geholt, welcher Magister Jean-Albert hieß, an der Schule von Sainte-Geneviève die sieben Künste gelernt hatte und sich nun in der Theologie ausbilden ließ. Gerne verdiente er sich im Haus der Guscelins ein Zubrot, gleichwohl ihn das kecke Frauenzimmer störte, welches ständig an Théodores Seite hockte und die verwirrendsten Fragen stellte.
Während der Junge erst Latein und Griechisch zu lernen hatte, konnte sie in beiden Sprachen fließend reden. Sie verlangte zu wissen, welche Bücher die Pariser Gelehrten am liebsten lasen – und erfuhr, dass zu diesen ein gewisser Petrus Abaelard zählte, welcher zwar zum einen schon lange tot und zum anderen für manche seiner Schriften von der Kirche verurteilt worden war, aber gerade den aufstrebenden Jungen die erregende Botschaft gab, dass Gott nicht auf seine Macht Wert lege, sondern auf den Geist der Freiheit. Solcher wurde genutzt – von aufmüpfigen Gelehrten wie David Dinant oder Amaury de Bène –, die verstärkt einen griechischen Philosophen zitierten, von dem sich noch nicht sagen ließ, ob er sich in der christlichen Theologie gebrauchen ließ: Aristoteles.
Magister Jean-Albert war geneigt, dem zu widersprechen, ward aber noch mehr als von seinen revolutionären Kollegen von Sophia aufgebracht.
Was konnte sie den Mund nicht halten? Was störte sie den Kleinen, wenn jener mühsam memorierte, und verlangte von ihm, er müsste schneller lernen oder sein Leben werde ein elendes? War es nicht vielmehr ihre Aufgabe, sich um die Einkäufe und die Küche zu kümmern?
Oh, schrecklich war der Niedergang der Sitten, welcher sich in Paris beobachten ließ! Nicht nur Sophia schien sich vor frischem Fleisch zu ekeln (sie war nur getrocknetes gewöhnt) – ja, auch die einstmals tüchtige Pariserin zog es längst vor, das fertig gegrillte Huhn oder die Wurst beim Fleischer zu kaufen, anstatt es selbst zu rupfen oder ein Schwein zu schlachten. Gewiss, man mochte für die leckeren Düfte von kross Gebratenem dankbar sein, welche durch die Straßen stiegen und den grässlichen Gestank nach dem Schlamm der Seine und dem Unrat, der aus den Fenstern geworfen wurde, vertrieben.
Und dennoch sollte ein Weib wie Sophia nicht bei den Schulstunden ihres Stiefsohns sitzen und ihn mit Geschimpfe, ja, manchmal gar mit Schlägen zu mehr Fleiß drängen, sondern besser entscheiden, wann die Wäsche gewaschen wurde und auf welche Weise es geschehe – mit Asche oder Seife.
Ganz gewiss aber durfte nicht geschehen – so wie es an einem Tag der Fall war –, dass Théodore sich an einer Stelle aus den Schriften des Boëthius abmühte, Sophia ob des stotternden Übersetzens ungeduldig wurde und schließlich – zurückgelehnt, die Arme über der Brust verschränkt und mit deutlich gelangweiltem Tonfall – die Stimme erhob und an Théodores statt fortfuhr, jedoch ohne ein Buch vor sich liegen zu haben, sondern frei (und fehlerfrei!) aus dem Kopf.
»Allem Zukünftigen eilt das göttliche Schauen voraus, wendet es um und ruft es zurück zur Gegenwärtigkeit des eigenen Erkennens und wechselt nicht veränderlich bald das, bald das Vorhererkennen.«
Théodore blickte mit aufgerissenen Augen. »Wie kommt es, dass Ihr so klug seid?«, stieß er atemlos aus.
»Mein Kopf vermag mehr zu fassen als das dickste aller Bücher«, gab sie spöttisch und zugleich stolz zurück. »Streng dich an, auf dass du mir das nachmachst!«
Magister Jean-Albert hingegen knurrte unwillig, vor allem, als sie vorgab, ob der Leichtigkeit dieser Übung zu gähnen. Verfluchtes Weib!, ging ihm durch den Kopf. Verfluchtes Weib!
Freilich wagte er nicht, solches laut zu sagen – er scheute den offenen Kampf mit der Hausherrin. Zunächst hoffte er noch auf das Einschreiten von Bertrand, musste dann jedoch erkennen, dass dieser in seinen geheimen Kammern vergraben blieb. Zuletzt blieb ihm nichts anderes übrig, als dann und wann missmutig die Stirne kraus zu ziehen, Sophias Wortmeldungen zu überhören und ihr als geheime Rache manches Mal einen Text vorzulegen wie den von Johannes Chrysostomus, in dem er allzu deutlich erklärte, dem Weibe wäre es befohlen, Kinder zu gebären und den Haushalt zu führen – mehr aber nicht.
Eine andere drückte ihr Missfallen deutlicher aus.
»Was macht Ihr mit dem Jungen?«, fragte Isidora,
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