Die Chronistin
hat ihr Leben allein der Wissenschaft geweiht, weil jene zwar Unbill und Weh und Schrecken beschreibt, aber nicht danach schmeckt. Doch immer dann, wenn sie sich nicht zwischen klaren Buchstaben verkriechen durfte, reichte ein geringer Anlass, und dann schleuderte ihr sonst so gut verstelltes Gemüt all seinen Groll den Menschen entgegen. Sie ließ sich auf sie ein – und sie ließ sich von den Menschen quälen, anstatt wie du vorschnell mit ihnen abgeschlossen zu haben. Oh nein, ihr beide gleicht euch nicht! Du hast dich beim ersten Donnergrollen geduckt, mit dem dir das Leben seine Macht verkündete, und dich fortan taub gestellt. Sophia aber nahm den Kampf auf und spuckte dem schwierigen Dasein nicht etwa nur kühle, gelehrte Worte entgegen. Nein, sie hat sich nicht lumpen lassen, mit Hoffart und Zorn, Maßlosigkeit und Gier dagegen zu wettern. Und tief drinnen im Herzen war sie zu einer Sache fähig, die du dir nie im Geringsten angeeignet hast: zur Liebe, mochte die ihre auch niemals vollends selbstlos sein.«
Wenn sie doch nur schweigen würde!, dachte Roesia. Wenn sie nur endlich das Plappern ließe! In einem Satz wäre gesagt, wofür sie zwanzig braucht!
»Ich kann’s kaum glauben«, warf sie kühl ein, als Gret endlich geendigt hatte, »dass du Sophia Anerkennung zollst. Willst du mir etwa sagen, du habest ihr verziehen – obgleich du sie dein Leben lang wüst des Verrates an der Königin zeihtest? In jenen Tagen, da ich in dieses Stift eingetreten bin, hörte man dich von nichts anderem wettern.«
»Diesen Verrat hatte sie auch teuer zu bezahlen, das gewiss. Und auch gar manche andere Sünde, die vielleicht sogar noch schwerer wiegt. Sophia hat nicht nur manches Mal die Wahrheit verbogen – sie ist obendrein eine Mörderin gewesen. Wusstest du das?«
»Oh, du böses Weib!«, fuhr Roesia auf. »Willst mir eben weismachen, dass du sie verstündest – und klagst sie dann des schlimmsten aller Verbrechen an!«
Gret lachte auf.
»Du hast mich falsch verstanden. Ich habe sie nicht angeklagt – ich habe es einfach festgestellt. Denn so ist es nun einmal gewesen: Sie trägt Schuld am Tod von drei Menschen. Zwar hat sie sie nicht eigenhändig umgebracht, sie jedoch solcherart dem Verderben preisgegeben, dass es dem gemeinen Dolchstoß gleichkommt. Die erste war eine Nonne im Kloster ihrer Kindheit, der zweite ihr eigener Gatte, die dritte...«
»Hör auf!«, rief Roesia dazwischen. »Hör auf!«
»Warum?«, fragte Gret dreist zurück. »Hast du ihr das nicht zugetraut? Im Übrigen wundert’s mich, dass du davon nichts weißt. Hast du denn ihre Chronik nicht gelesen?«
Gret machte eine Pause. Gewöhnlich riss ihr Redefluss niemals ab.
»Der Inhalt der Chronik ist ein Geheimnis!«, entgegnete Roesia heftig. »Keine der Schwestern im Stift kennt ihn.«
»Ja, gewiss«, lachte Gret. »Mit ihnen wollte Sophia auch nie etwas zu tun haben. Aber mit dir. Du warst ihre Schülerin. Und haben wir nicht kürzlich erfahren, dass sie sogar ihrer Tochter Cathérine daraus vorgelesen hat?«
»Nun, ich habe die Chronik nicht gelesen«, entgegnete Roesia stur.
Gret verkniff die Augen und atmete rauchig. Ihr Gesicht war in einer Nebelmaske gefangen. »Seltsam, seltsam...«, sprach sie nachdenklich, um mit einem Kichern fortzufahren, »wo doch sogar ich, die sie mich lange Zeit für ihre Widersacherin hielt, weiß, worum es in Sophias Schriften geht!«
Kapitel IX.
Anno Domini 1200
Adeline war fromm.
Die Schwester von Bertrand, die einst nach Mélisandes Tod den kleinen Théodore aufgenommen, selbst einen Grafen von Brienne geheiratet und ihm Söhne geboren hatte, handelte mit Gott wie die Kaufleute in den Pariser Straßen mit Schnitzereien, Silbergeschirr und edlen Stoffen. Kostbarste Reliquien ließ sie durch einen Unterhändler ersteigern und solcherart manch Kirche und manch Kloster unverhofften Reichtum zukommen, in der Hoffnung, auf diese Weise die aufreibende Zeit im Fegefeuer verkürzen zu können.
Nicht alle Reliquien verschenkte sie. Stets betete sie in Gegenwart eines Pergamentstreifens des Markusevangeliums, das der Evangelist persönlich dem heiligen Hermacoras von Aquileja übergeben hatte, von Teilen des Rostes, auf dem der heilige Laurentius zu Tode gegrillt wurde, und schließlich von einer Schüssel, in der sich die Heilige Geneviève, die zu ihren Lebzeiten Paris vor den blutrünstigen Heiden gerettet hatte, die Haare gewaschen hatte.
Dieser Einsatz freilich – das wusste Adeline – reichte
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