Die Chronistin
nicht, sich einen strengen und rachsüchtigen Gott gnädig zu stimmen. Jeden Sonntag ging sie zur Kirche – jedoch nicht, um eine Messe zu hören, sondern derer viele. Sie erschien immer dann in einem Gotteshaus, wenn der Priester die Elevatio vollzog, indem er die gewandelte Hostie hochhielt, denn das, so wusste ein jeder im Glauben kundige Mensch, war der segensreichste Augenblick eines jeden Gottesdienstes und ersetzte dreißig Tage im Fegefeuer. War er vorüber, zog es sie in die nächste Kirche, um dort das Gleiche zu erleben, und oft errechnete sie sich beim Heimweg ehrgeizig, wie viele Tage der schrecklichen Läuterung sie sich denn nun erspart hatte, und wähnte sich glücklich, wenn sie auf über hundert kam.
Es gab freilich einen noch schrecklicheren Ort als das Fegefeuer, dessen Tortur sich schließlich nur die dereinst im Himmel Erlösten unterwerfen mussten, und von solchem sprach sie, während sie mit roten Wangen auf Bertrand und Sophia zugelaufen kam, die der Kutsche entstiegen waren und eben ihr Haus betreten hatten.
»Er will ihn nicht taufen!«, schrie sie gellend. »Er will ihn nicht taufen! Und wir wissen doch, dass die ungetauften Seelen der Kinder in den Limbus geraten! Dort warten zwar nicht die bösen Dämonen, um zu quälen und Schmerzen zu bereiten, aber fortwährende Finsternis und Kälte. Und niemals werden die Kleinen mit den Engeln Gottes Lieder singen. Und niemals dürfen sie den Allmächtigen schauen.«
Aufschluchzend sank sie vor Bertrand nieder, indessen Sophia prüfend die Nase hob und abgestandene Luft erschnüffelte, die nach Krankheit roch.
In den Häusern der reichen Pariser herrschte weniger Gestank, als sie dereinst in Lübeck erlebt hatte. Man wusch sich täglich – nicht nur die Hände, sondern den ganzen Leib (was Sophia im Übrigen nie leiden konnte; Nacktheit, und sei es die eigene, erinnerte zu sehr an das schwitzende Fleisch von Griseldis oder das mit braunen Flecken übersäte von Arnulf). Bei Adeline nun aber vermischte sich brennender Qualm mit Schweiß und Erbrochenem – und schließlich auch dem süßen und zugleich verdorbenen Geruch von den Exkrementen kleiner Kinder.
»Oh, bitte helft, dass ihm der Limbus erspart bleibt! Ich könnte schon von ihm lassen, wenn Gott es denn wollte – nur nicht in dieser verwunschenen Zeit!«
Bertrand starrte verlegen auf die aufgebrachte Schwester hinab; Sophia aber suchte zügig nach dem Raum, wo sich die verbrauchte Luft am meisten staute – ein schlichtes Zimmer ohne gekachelten Boden und holz-verkleidete Wände: in guten Zeiten die Kinderstube, am heutigen Tag jene der Kranken.
Drei Söhne hatte Adeline von Brienne, und alle drei lagen im Fieberwahn. Die hitzigen Körper waren mit kirschroten Flecken übersät, und aus den Mündern quollen gerötete Zungen.
»Mit meinem Ältesten fing’s an«, erklärte Adeline klagend, als sie Sophia ins Zimmer folgte, »und die zwei Kleinen hat es bald hernach getroffen...«
»Macht das Fenster auf! Es ist ja kein Aushalten in diesem Gestank«, befahl Sophia kurz.
»Oh nein!«, kreischte Adeline auf. »Ein jeder weiß, dass in einer Krankenstube die Balken geschlossen zu sein haben. Wisst Ihr denn nicht, dass draußen die Dämonen warten und sich einen Weg ins Innere erhoffen?«
Ehe Sophia antworten konnte, bäumte sich einer der Jungen auf. »Es brennt«, klang es fast murrend über die aufgerissenen Lippen. »Es steht alles in Flammen. Es brennt... es brennt!«
»Oh nein!«, wiederholte Adeline erneut, diesmal jedoch nicht als Ausdruck des Verbotes, sondern der tiefen Klage. »Er spricht vom Drachen, welcher Feuer spuckt... den ganzen Tag geschieht’s, und ich kann ihn sehen, gewiss kann ich ihn selbst sehen, wie er aus dem Ofen gekrochen kommt!«
Der Qualm aus dem Kamin verstärkte sich. Wiewohl es schon Frühling war, hatte jemand der Hausherrin geraten, in der Krankenstube für Wärme zu sorgen. Die grauen Schwaden jedoch, die vom knirschenden Feuer wegzogen, verpesteten die Luft.
»Öffnet endlich das Fenster!«, bellte Sophia ein zweites Mal und schritt prüfend von Bett zu Bett, um die glühenden Kinder zu betrachten.
»Nur der Erzengel Michael kann helfen!«, plärrte Adeline, indessen nun auch Bertrand zögerlich den Raum betrat. »Er allein kann den Drachen erschlagen... doch weh! Mein Jüngster ist noch nicht getauft! Niemals wird der Engel um seine Seele kämpfen, sondern den Drachen größer und größer wachsen lassen, und mein Kleiner bleibt achtlos
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