Die Corleones
aufwachte, legte er sich neben sie und strich ihr übers Gesicht. Er wusste, dass sie tot war, kaum hatte er ihre Haut berührt, aber er legte ihr trotzdem das Ohr auf die Brust. Er hörte keinen Herzschlag, und in der Stille spürte er ein seltsames Gefühl in sich aufsteigen – für einen Moment glaubte er, er müsste weinen. Luca hatte nicht mehr geweint, seit er ein kleiner Junge gewesen war. Damals hatte er jedes Mal geheult, bevor sein Vater ihn verprügelte, aber eines Tages hatte er einfach damit aufgehört – und so verstörte ihn diese plötzliche Empfindung zutiefst, und er würgte sie hinunter, sein ganzer Körper schmerzhaft steif, bis das Gefühl nachließ. Aus einer Tasche zog er ein Fläschchen voller Pillen, kippte ein paar davon in die hohle Hand und warf sie sich in den Mund. Er spülte sie mit einem Schluck Whisky aus einem Flachmann hinunter, der auf dem Nachttisch stand. Dann setzte er sich auf, warf sich die restlichen Pillen in den Mund und trank den Flachmann leer. Hatte er nicht noch mehr Pillen im Schrank? Schließlich fand er in einer Jackentasche zusammen mit einigen zusammengerollten Geldscheinen ein weiteres Fläschchen. Darin waren nur noch zehn oder zwölf Pillen, aber er warf sie trotzdem ein und legte sich wieder neben Kelly. Er schob den Arm unter ihren Bauch und zog sie zu sich heran, so dass ihr Kopf auf seiner Brust ruhte. »Lass uns schlafen, Puppengesicht«, sagte er. »Hier ist eh alles scheiße, wohin man schaut.« Und schloss die Augen.
14.
Richie Gatto steuerte Vitos Essex langsam die Chambers Street hinunter zum Rathaus. Das Wetter war klar und kalt. Die Schneehaufen, die vom letzten Unwetter zurückgeblieben waren und sich zwischen Straße und Gehsteig zu niedrigen Barrikaden verfestigten, wurden zunehmend unansehnlicher. Michael saß auf der Rückbank zwischen Vito und Genco und erzählte aufgeregt, was er über das Rathaus gelesen hatte.
»Papa«, sagte er, »hast du gewusst, das Abraham Lincoln und Ulysses S. Grant beide im Rathaus öffentlich aufgebahrt waren?«
»Wer ist Ulysses S. Grant?«, fragte Genco, der steif am Fenster saß, eine Hand auf dem Magen, als hätte er Schmerzen, in der anderen Hand die Krempe seines schwarzen Derby, der auf seinen Knien ruhte.
»Der achtzehnte Präsident der Vereinigten Staaten«, erwiderte Michael. »Achtzehnneunundsechzig bis achtzehnsiebenundsiebzig. Lee hat sich Grant am Ende des Bürgerkriegs in Appomattox ergeben.«
»Oh«, sagte Genco und sah Michael an, als stamme der Junge vom Mars.
Vito legte Michael eine Hand aufs Knie. »Da sind wir«, sagte er und deutete aus dem Fenster zur glänzenden Marmorfassade des Rathauses hinüber.
»Wow«, sagte Michael. »Schaut euch die vielen Stufen an!«
»Dort ist Stadtrat Fischer«, sagte Vito.
Richie hatte den Stadtrat ebenfalls gesehen und ließ den Essex vor dem großen Säulenvorbau ausrollen.
Michael trug einen marineblauen Anzug mit einem weißen Hemd und einer roten Krawatte, und Vito beugte sich zu ihm hinüber und zog die Krawatte gerade. »Nach der Führung mit dem Stadtrat wird einer seiner Assistenten dich nach Hause fahren«, sagte er, holte eine Geldklammer aus der Innentasche seines Jacketts und reichte Michael einen Fünf-Dollar-Schein. »Duwirst das nicht brauchen, aber du solltest immer ein paar Dollar dabeihaben, wenn du unterwegs bist.
Capisc’
?«
»
Sì «
, sagte Michael. »Danke, Papa.«
Stadtrat Fischer wartete, die Hände in die Hüften gestemmt und ein breites Lächeln auf den Lippen, vor der großen Treppe. In seinem braunen, großkarierten Anzug und dem Hemd mit Stehkragen wirkte er äußerst adrett, was von der hellgelben Krawatte und der gelben Nelke am Aufschlag noch betont wurde. Obwohl die Sonne schien, war es kalt, doch er hatte sich den Mantel über den Arm gelegt. Er war ein untersetzter Mann mittleren Alters mit hellblondem Haar, das unter seinem Fedora hervorlugte.
Michael schlüpfte in seinen Mantel, stieg hinter seinem Vater aus dem Wagen und folgte ihm über den Gehsteig. Der Stadtrat kam ihnen mit ausgestreckten Armen entgegen.
»Das ist mein jüngster Sohn Michael«, sagte Vito, nachdem er dem Stadtrat die Hand geschüttelt hatte, und legte Michael den Arm um die Schulter. »Er ist Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich die Zeit für ihn nehmen.«
Der Stadtrat legte Michael die Hände auf die Schultern und musterte ihn eingehend. Zu Vito sagte er: »Da haben Sie aber einen ansehnlichen jungen Mann, Mr. Corleone.« Und an Michael
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