Die Daemonenseherin
oben, ehe sie die Hand wieder sinken ließ. Sie musste nicht weitertasten, um zu wissen, dass sich eine halbe Armlänge über ihrem Kopf eine Decke wölbte, die auf der anderen Seite wieder abfiel. Wie ein Sarg, nur dass sie nicht tot war. Was hier geschah, war schlimmer als der Tod. Es war eine Reise in die Vergangenheit.
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E in brüllender Schmerz in der Schulter zwang Alessa in die Knie. Die Haut an ihrem Rücken spannte und pulsierte, als sei sie zu klein für ihren Körper. Auf den Knochen lastete ein ungeheurer Druck. Keuchend kämpfte sie dagegen an, versuchte ihre Schutzschilde wieder aufzurichten, doch ihr fehlte die nötige Kraft. Kalter Schweiß bedeckte ihren Leib und rann in zähen Strömen über ihr Gesicht. Ihre Schulterblätter knirschten, Rippen brachen. Alessa schrie und kämpfte gegen die Schwärze an, die von allen Seiten auf sie zukroch und sie mit sich zu reißen drohte. Kontrolle! Sie brauchte die Kontrolle! Dann platzte die Haut auf, wurde von innen aufgerissen, als sich der Dämon seinen Weg nach draußen bahnte. Messerscharfe Klauen gruben sich in ihren Rücken und drückten Alessa zu Boden. Hautfetzen, Fleisch und Blut fielen von seinen ledrigen Schwingen, tropften zu Boden, als er seinem Gefängnis entstieg. Das Letzte, was sie sah, war sein Schatten, der sich über sie legte wie ein Grabtuch. Dann schlug er seine Reißzähne in ihre Kehle und es wurde finster.
Alessa erwachte mit einem Schrei. Ihr Herz raste. Sie spürte, wie sich der Dämon in ihr regte, und beeilte sich, die Mauer wieder aufzurichten, die ihn von ihrem Bewusstsein abkoppelte. Eine Weile saß sie still da, wartete, dass sich ihr Herzschlag wieder beruhigte, und lauschte in sich. Erst als sie sicher war, dass sich der Dämon nicht aus seinem Gefängnis befreien konnte, wagte sie aufzuatmen. Sie tastete nach der Stehlampe neben der Schlafcouch und schaltete sie an. Das Licht der schwachen Glühbirne erreichte kaum die Wände des kleinen Zimmers, trotzdem war es besser als die völlige Finsternis.
Während der letzten Monate waren die Träume seltener geworden und schließlich ganz ausgeblieben, sodass es ihr sogar gelungen war, ohne Licht zu schlafen. Sichtlich war diese Zeit nun vorbei.
Die Leuchtziffern ihres Weckers verkündeten in gnadenlosem Grün, dass es gerade einmal vier Uhr morgens war. Die Nacht war noch nicht einmal annähernd um, trotzdem wusste Alessa, dass sie keine Ruhe mehr finden würde. Obwohl sie zu ihrem Flanellpyjama dicke Baumwollsocken trug und ihr Körper nach dem Albtraum schweißgebadet war, fror sie. Da half auch die dicke Decke nichts, in die sie sich gewickelt hatte. Manchmal kam es ihr vor, als sei die Wärme nie wieder in ihren Körper zurückgekehrt, nachdem sie Monate in der eisigen Kälte des Labors verbracht hatte.
Sogar im Sommer brauchte sie einen Pullover und eine warme Jacke, wo ihr früher ein T-Shirt gereicht hatte. Die Decke noch immer um ihren Körper geschlungen stand sie auf und schaltete die Elektroheizung an. Der Raum – Schlafzimmer, Wohnzimmer und Küche in einem – war so klein, dass er sich schnell aufheizte, doch selbst das genügte oft nicht.
Noch immer blitzten die Bilder des Dämons vor ihr auf, sobald sie die Augen schloss. Um die Erinnerung an den Traum loszuwerden, ging sie ins Bad und nahm eine lange heiße Dusche. Sie genoss den Dampf, der das winzige Badezimmer ausfüllte und kleine Schweißtropfen über ihre Haut perlen ließ. Am liebsten wäre sie dortgeblieben, doch die Dampfwolken würden sich schon bald verziehen, die Fliesen rasch abkühlen und die wohlige Wärme würde wieder aus ihrem Körper kriechen.
Sie hängte das nasse Handtuch über den oberen Rand der Duschkabine, schlüpfte in Socken, Sweathose und einen warmen Strickpullover und kehrte ins Zimmer zurück, um sich eine Kanne Tee zu kochen. Die Heizung hatte gute Arbeit geleistet und den Raum auf eine angenehme Temperatur gebracht, trotzdem legte sich Alessa die Decke über die Beine, als sie sich wenig später auf die Schlafcouch setzte. Eine Tasse mit dampfendem Tee in den Händen lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Anstelle der Erinnerungen an den Traum schoben sich nun die Bilder des toten Professors wieder in den Vordergrund. Während der letzten drei Jahre hatte sie mehr oder weniger vor sich hin vegetiert. Der Anblick des Professors gestern Morgen hatte den Funken Lebenswillen, den sie noch verspürte, wieder aufflammen lassen. Jetzt, da sie den Hunger nach Leben einmal
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