Die Darwin-Kinder
Carlton.
»Vor rund zwanzigtausend Jahren ist eine Lawine aus vulkanischen Gasen, Schlamm und Wasser durch dieses Flussbett gerast und hat diese Leute unter einer heißen Schlammschicht begraben und alle getötet. Eine von ihnen hat einen Korb aus Grasmatten fallen gelassen. Der Abdruck ist immer noch in dem nicht ausgehobenen Material zu Ihrer Rechten zu sehen. Die Frau ganz oben – sie ist durch ein rotes Plastikschild gekennzeichnet, das dünne blaue Klebeband verdeutlicht ihre Umrisse – ist größer und kräftiger gebaut als die anderen. Sie gehört zur Gattung Homo erectus und ist, ähnlich wie der Homo heidelbergensis, dem späten Stadium zuzurechnen. Allerdings haben wir noch keine wissenschaftliche Bezeichnung dafür gefunden. Sie scheint in den Vierzigern zu sein, zu alt, um noch Kinder zu bekommen, und für die damalige Zeit schon sehr betagt. Ein Großmutter-Typ. Wir nehmen an, dass sie die Kinder, vielleicht auch zwei Frauen, beschützen wollte. Das kleine Mädchen und die anderen Frauen gehören alle zur Gattung Homo sapiens und unterscheiden sich im Grunde nicht von Ihnen und mir. Der kleine Junge ist ebenfalls ein Homo erectus.
Anfangs haben wir angenommen – das heißt Connie, Eileen und die Pioniere dieser Ausgrabung, ich selbst bin ja erst später dazu gestoßen –, dass hier nur Frauen begraben liegen und die Männer weggelaufen sind und sie im Stich gelassen haben. Später hat Mr. Rafelson in der näheren Umgebung, am anderen Flussufer, die ersten Spuren der Männer entdeckt. Wir dachten, sie hätten vielleicht gejagt und sich dann auf den Rückweg zu ihren Frauen gemacht. Nun ja, das mag zwar so gewesen sein, aber das ist noch längst nicht alles. Inzwischen haben wir dreizehn weitere Fundstellen am Spent River aufgetan, alle im Umkreis von tausend Metern. Insgesamt haben wir dreiundfünfzig komplett erhaltene Skelette entdeckt und um die siebzig Teilskelette, darunter Oberschenkelknochen, Schädeldecken und hier und da auch Zähne.
Das hier war eine Art Dorf, das im Herbst dazu errichtet wurde, die Lachswanderungen im Fluss auszunutzen. Die Großfamilien kampierten am Rande eines lockeren Wegenetzes, um von dort aus auf die Ankunft der Lachse zu warten. Der Vulkanausbruch, der sie erwischte, ließ sie in ihrer Zeit erstarren, sodass wir sie finden und mit ihnen nach all diesen Jahren Bekanntschaft schließen konnten… Nun ja, ich betrachte sie als alte Freunde, besser gesagt: als alte Lehrmeister.«
Als Stella Mitch ansah, bemerkte sie eine Träne auf seiner Wange.
Carlton machte eine kurze Pause, um seine Gedanken zu ordnen. Dieser große, raubeinig wirkende Mann machte Celia ganz benommen, vielleicht jagte er ihr auch ein wenig Angst ein, jedenfalls war ihr Kiefer nach unten geklappt. LaShawna runzelte vor Konzentration die Stirn.
»Was sie uns heute lehren, ist recht einfach: Sie sind als Gleichberechtigte umhergezogen. Ich persönlich weiß nicht, was sie einander zu bieten hatten. Aber wir haben eine annähernd gleiche Anzahl beider Spezies, des Homo erectus und des Homo sapiens, entdeckt. Es sind Kinder – und auch Männer
– beider Arten vertreten. Unsere erste
Ausgrabungsstätte bildet eine Ausnahme. Wenn ich hier einmal spekulieren darf…«
»Er hat viel mit dir gemein, Mitch«, rief Eileen aus der Menge heraus, die unterhalb des Gerüstes versammelt war.
Carlton lächelte schüchtern. »Wenn ich hier einmal spekulieren darf, würde ich sagen, dass sich die Vertreterinnen und Vertreter des Homo erectus als Jäger betätigt haben und dabei die vom Homo sapiens hergestellten Waffen benutzten.
Wir haben die Analyse von Ausgrabungen am äußersten Rand zwar noch nicht abgeschlossen – es handelt sich dabei um eine Gruppe von Jägern –, aber es sieht so aus, als hätten erectus-Frauen dabei die Führung innegehabt. Sie hatten Werkzeuge dabei, mit denen sie aus Feuersteinen Funken schlagen konnten, außerdem regelrechte Waffen und einige Steine, die sie möglicherweise als Glücksbringer mit auf die Jagd nahmen.
Sie haben ganz richtig gehört: Es waren große Mädchen mit gut ausgebildeten Riechorganen, die die gescheiten Jungs angeführt haben.
Wir suchen noch nach dem zentralen Platz, an dem das Wild zerlegt wurde. Normalerweise ist er nahe bei dem Ort zu finden, wo die großen Schneidwerkzeuge hergestellt wurden.
In jenen Tagen brachten die Jäger das Großwild meistens ins Dorf mit, um es an einem geschützten Ort zu zerlegen. Wir wissen nicht genau, warum:
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