Die Depressionsfalle
Substanz, die von über 100 Millionen Menschen gebraucht wurde. Edward Shorter stellt in diesem Kontext die Frage: âWie viele Fälle von Sucht braucht es, dass von einerbemerkenswerten Anzahl gesprochen werden kann, bei einer Droge, die von über 100 Millionen Patienten gebraucht wurde?â 51
Shorter zeichnet dann nach, dass die drogenpolitische Kampagne für eine Beschränkung des Gebrauchs von Tranquilizern und verschärfte Kontrolle dieses Gebrauches, die in den späten 60er Jahren ablief und sich in besonderer Weise gegen Meprobamat richtete, letztlich Ausdruck eines radikal konservativen politischen Willens war und dazu diente, die Macht der Food and Drug Administration (FDA), der US-amerikanischen Behörde für Lebensmittel- und Arzneimittelsicherheit, zu festigen. Das Verfahren, in dem Meprobamat zu einer gefährlichen Droge erklärt wurde, sei eine Farce gewesen, in der wissenschaftliche und therapeutische Evidenz einem hybriden Kontrollziel zum Opfer gefallen seien. Shorters Meinung nach war Meprobamat eines der besten Arzneimittel, die der Psychiatrie jemals zur Verfügung gestanden waren. Er zitiert in diesem Kontext Thomas Ban, den Gründer des Programms für Psychopharmakologie an der McGill Universität in Montréal: âEs ist eine sehr gute Droge, gut vergleichbar mit den Benzodiazepinen. Ich selbst habe es bis in die 80er Jahre hinein angewendet. Für die ambulante Psychiatrie war das das Beste, das jemals geschah. Es ist eine sehr, sehr bedeutende Droge.â 52
Minor Tranquilizer 2 â Benzodiazepine
Zugleich mit dem Niedergang der Popularität des Meprobamat ging der Aufstieg der nächsten Substanzgruppe mit vorwiegend dämpfender Wirkung einher, die auch in der Behandlung der Depression Anwendung fand: den Benzodiazepinen. Als erstes Benzodiazepin wurde Librium von der Firma Hoffmann-La Roche 1959 entwickelt. Es wurde rasch zu einem Verkaufsschlager. Bereits 1964 wurde doppelt so viel Librium verkauft wie Meprobamat; bis 1966 war das Arzneimittel an mehr als 15 Millionen amerikanische Staatsbürger abgegeben worden, die mehr als 6 Milliarden Einzeldosen geschluckt hatten. Bereits während dieses Höhenflugs wurde die Substanz jedoch von einem chemischen engen Verwandten abgelöst und überrundet. 1963 brachte Hoffmann-La Roche mit Valium die psychoaktive Substanz auf den Markt, die zur meistverkauften psychiatrischen Drogeund zum Synonym für die Behandlung ânervöser Zustandsbilderâ wurde. 1964 wurden 4 Millionen Verschreibungen für Valium ausgestellt, 1972 über 50 Millionen. 1974 berichtete die
New York Times
, dass Valium die meistverschriebene Droge in den USA, vielleicht aber auch auf der ganzen Welt sei. 1971 betrug der Gesamtumsatz von Hoffmann-La Roche in den USA 280 Millionen Dollar, der von Librium und Valium allein 200 Millionen Dollar.
Die Benzodiazepine galten zunächst als Wunderdrogen. Insbesondere wurde von ihnen auch behauptet, dass ihr Gebrauch keine Sucht auslöse. Sie haben ein breites Wirkungsspektrum, sie wirken schlafanstoÃend, muskelentspannend, krampflösend, vor allem aber âanxiolytischâ (angstlösend) und konnten daher für viele Einsatzbereiche empfohlen werden. Sie wurden zur Behandlung von ängstlichen, aber nicht depressiven Patienten, von psychosomatischen Beschwerden, für alle Arten von neurotischen und psychotischen Entwicklungen und von Persönlichkeitsstörungen empfohlen. Als Antidepressiva wurden Benzodiazepine seit den mittleren 60er Jahren eingesetzt. Paul Feldman, der Forschungsdirektor des berühmten Topeka State Hospitals, sagte 1966 im Rahmen eines Hearings, das die FDA zu Librium und Valium veranstaltete, aus, dass Valium besondere Wirksamkeit gegen bestimmte Symptome habe, die man leichten Depressionen zuordne, insbesondere gegen Desinteresse an der Umgebung, Behandlungsverweigerung, etc.
In den klinischen Untersuchungen der Benzodiazepine wurden, ebenso wie in Anwendungsbeobachtungen, antidepressive Eigenschaften beobachtet. Auch an dieser Stoffgruppe wurde beschrieben, dass sie sich vor allem für die Behandlung neurotischer, reaktiver, ängstlich betonter â kurz zusammengefasst: nicht-melancholischer â Verläufe der Depression eignen, nicht aber für die Behandlung der Melancholie. Derartige Wirkungsdarstellungen begannen in den 60er Jahren und wurden bis in die 90er Jahre veröffentlicht. In Bleulers
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