Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)
gefasst. Die kinotropistes schienen den Absinth von Pernod Fils zu bevorzugen; Oliphant, der ein Glas Rotwein bestellt hatte, beobachtete das Ritual mit Glas und Wasserkaraffe, Zuckerstück und kellenförmigem Löffel.
»Absinth ist der Nährboden der Tuberkulose«, dozierte Beraud.
»Warum glauben Sie, dass Madame Tournachon sich entschließen wird, heute Abend in diesem Café zu erscheinen, Beraud?«
Der mouchard zuckte mit den Achseln. »Sie ist vertraut mit le milieu , Monsieur. Sie geht zu Madelon, auch zu Batiffol, aber hier, im l’Univers, findet sie am ehesten Unterhaltung und Gesellschaft.«
»Und warum ist das so, meinen Sie?«
»Weil sie Gautiers Geliebte war. Er war hier eine Art Prinz, Monsieur. Das muss man wissen. Ihre Beziehung mit Gautier hat ihre Kontakte mit der gewöhnlichen Gesellschaft notwendigerweise begrenzt. Er brachte ihr Französisch bei, jedenfalls das, was sie kann.«
»Was für eine Art von Frau ist sie, in Ihren Augen?«
Beraud schmunzelte. »Sie ist vielleicht attraktiv, aber kalt. Teilnahmslos. Wie die Engländerinnen eben sind, verstehen Sie?«
»Wenn sie kommt, Beraud – falls sie kommt, sollte ich sagen –, haben Sie augenblicklich das Lokal zu verlassen.«
Beraud zog die Brauen hoch. »Im Gegenteil, Monsieur …«
»Sie haben das Lokal zu verlassen, Beraud. Sie müssen gehen.« Eine gemessene Pause. »Verschwinden.«
Die wattierten Schultern des braunen Anzuges hoben sich, und Beraud seufzte.
»Sie werden den Droschkenkutscher anweisen, dass er zu warten hat, und den Stenografen auch. Übrigens, der Stenograf, Beraud – ist sein Englisch ausreichend? Mein Freund – mein sehr guter Freund, Monsieur Arslau, hat mir versichert, dass dies der Fall ist …«
»Absolut ausreichend, ja! Und, Monsieur …« – er stand so schnell auf, dass er seinen Bugholzstuhl beinahe umgeworfen hätte –, »da ist sie …«
Die Frau, die jetzt das l’Univers betrat, hätte leicht für eine modische Pariserin der begüterten Schichten gehalten werden können. Schlank und blond, trug sie eine Krinoline aus dunkler Merinowolle mit passendem Umhang und einer hermelinbesetzten Haube.
Als Beraud seinen hastigen Rückzug in die Tiefen des Cafés fortsetzte, stand Oliphant auf. Der Blick ihrer sehr wachsamen, sehr blauen Augen begegnete dem seinen. Er trat auf sie zu, den Hut in der Hand, und verbeugte sich. »Verzeihen Sie«, sagte er auf Englisch. »Man hat uns nicht bekannt gemacht, aber ich muss in einer Angelegenheit von großer Dringlichkeit mit Ihnen sprechen.«
Verstehen kam in die großen blauen Augen – und Angst.
»Sir, Sie verwechseln mich mit einer anderen.«
»Sie sind Sybil Gerard.«
Ihre Unterlippe zitterte jetzt, und Oliphant verspürte eine plötzliche, starke und ganz unerwartete Sympathie. »Ich bin Laurence Oliphant, Miss Gerard. Sie befinden sich gegenwärtig in großer Gefahr. Ich möchte Ihnen helfen.«
»Das ist nicht mein Name, Sir. Bitte lassen Sie mich durch. Meine Freunde warten.«
»Ich weiß, dass Egremont Sie bedroht. Ich verstehe die Natur seines Betrugs.«
Bei der Nennung des Namens schrak sie zusammen, und Oliphant befürchtete schon, sie werde auf der Stelle in Ohnmacht fallen, aber dann schauderte sie ein wenig und sah ihn eine Weile aufmerksam an. »Ich sah Sie in jener Nacht im Grand’s Hotel«, sagte sie. »Sie waren im Rauchsalon, mit Houston und … Mick. Sie hatten einen verletzten Arm in einer Schlinge.«
»Bitte«, sagte er, »setzen Sie sich zu mir.«
Sie ließ sich ihm gegenüber am Tisch nieder, und Oliphant hörte sie in recht passablem Französisch absinthe de vidangeur bestellen.
»Kennen Sie Lamartine, den Sänger?«, fragte sie.
»Tut mir leid, nein.«
»Er erfand ihn, den ›Straßenkehrerabsinth‹. Ich kann ihn anders nicht trinken.«
Der Kellner brachte das Getränk, eine Mischung von Absinth und Rotwein.
»Théo lehrte mich, ihn zu bestellen«, sagte sie, »bevor er … fortging.« Sie trank. »Ich weiß, dass Sie gekommen sind, mich zurückzuholen. Machen Sie mir nichts vor. Ich kenne einen Polizisten, wenn ich einen sehe.«
»Ich habe kein Verlangen, Ihre Rückkehr nach England zu erörtern oder gar anzuordnen, Miss Gerard …«
»Tournachon. Ich bin Sybil Tournachon. Französische Staatsbürgerin durch Eheschließung.«
»Ihr Gemahl ist hier in Paris?«
»Nein«, sagte sie und hob ein ovales Medaillon aus Stahl an seinem schwarzen Samtband. Sie ließ den kleinen Deckel aufspringen und zeigte ihm eine
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