Die Doppelgaengerin
das Handy aus dem Halter und rief Siana an. Wegen der laufenden Ermittlungen hatte niemand meine Familie informiert, was am Morgen passiert war, und auch jetzt erklärte ihr Wyatt nur das Nötigste: Ich hätte einen Unfall gehabt, der Airbag habe sich gelöst, sodass ich größtenteils unverletzt geblieben und nicht mal ins Krankenhaus gebracht worden sei, aber meine Handtasche sei im Auto liegen geblieben, weshalb ich jetzt nicht mehr in meine Wohnung käme. Ob sie vorbeikommen und mir aufschließen könne? Falls nicht, sagte Wyatt, würde er einen Polizisten vorbeischicken, um die Schlüssel abzuholen.
Ich konnte Sianas aufgeregte Stimme hören, aber was sie genau sagte, bekam ich nicht mit. Wyatts besonnene Antworten schienen sie jedoch zu beruhigen, und als er aufgelegt hatte, sagte er: »Sie ist in zwanzig Minuten hier. Willst du solange im Auto sitzen, und wir lassen die Klimaanlage laufen?«
Allerdings. Ich wischte mir – ganz vorsichtig – die Tränen ab und fragte ihn nach einem Taschentuch. Natürlich hatte er keines dabei. Männer sind auf nichts vorbereitet.
»Aber ich habe eine Rolle Klopapier im Kofferraum, wenn du dich damit begnügst.«
Okay, ich wollte nicht wissen, wozu er das Klopapier brauchte, aber ich konnte ihm nicht mehr vorwerfen, unvorbereitet zu sein. Von meinen Tränen abgelenkt, ging ich mit ihm zusammen zum Kofferraum und schaute ihm beim Öffnen zu, weil mich interessierte, was er sonst noch spazieren fuhr.
Die Hauptsache war ein großer Pappkarton, in dem das Klopapier, ein ziemlich teurer Erste-Hilfe-Kasten, eine Packung Gummihandschuhe, mehrere Rollen Klebeband, zusammengefaltete Plastikplanen, ein Vergrößerungsglas, ein Maßband, Papiertüten, Plastikbeutel, eine Pinzette, eine Schere und noch mehr Sachen lagen. Außerdem hatte er eine Schaufel, eine kleine Axt und eine Säge dabei. »Wozu brauchst du die Pinzette?«, fragte ich. »Oder hast du die nur dabei, falls du dir unterwegs die Brauen zupfen möchtest?«
»Um Beweise zu sammeln«, erwiderte er, während er eine Lage Klopapier abwickelte und mir gab. »Die brauchte ich, als ich noch Detective war.«
»Aber du bist kein Detective mehr«, erinnerte ich ihn. Ich faltete das Klopapier klein, wischte damit meine Augen ab und schnäuzte mich dann.
»Alte Gewohnheiten sind schwer abzustellen. Ich habe immer noch die Vorstellung, dass ich das Zeug irgendwann mal brauchen könnte.«
»Und die Schaufel?«
»Man kann nie wissen, ob man nicht unerwartet eine Grube ausheben muss.«
»O Mann.« Das zumindest konnte ich nachvollziehen. »Ich habe immer einen Ziegelstein im Kofferraum«, vertraute ich ihm an und spürte gleich darauf einen schmerzhaften Stich, als mir einfiel, in welchem Zustand Ziegelstein und Auto waren.
Er klappte den Kofferraumdeckel zu und sah mich mit gerunzelter Stirn an. »Einen Ziegelstein? Wozu brauchst du einen Ziegelstein?«
»Falls ich ein Fenster einschlagen muss.«
Er schwieg kurz und sagte dann zu sich selbst: »Was muss ich auch fragen.«
Wir saßen im Auto, bis Siana in ihrem nagelneuen Toyota Camry auftauchte. Smart und sexy stieg sie aus, in ein lilagraues Kostüm gekleidet, unter dessen Sakko ein rotes Spitzentop aufblitzte. An den Füßen hatte sie ebenfalls lilagraue Riemenpumps mit sieben Zentimeter hohen Lucite-Absätzen. Ihr goldblondes Haar war zu einem schulterlangen Pagenkopf gestutzt, dessen schlichter Stil ihr herzförmiges Gesicht betonte. Trotz ihrer tollen Grübchen warnte Sianas Auftreten: »Fürchte dich. Du hast allen Grund dazu.« Wir drei Schwestern hatten im Grunde die gesamte Optik-Palette abgedeckt. Ich war einigermaßen hübsch, aber vor allem athletisch und mit Geschäftssinn ausgestattet. Siana hatte vielleicht nicht ganz so ebenmäßige Züge, aber aus ihrem Gesicht strahlte unübersehbar die Klugheit, und sie hatte echt tolle Brüste. Jenni war die Größte von uns dreien, hatte dunkle Haare und eine Superfigur. Sie hatte sich noch nicht für einen Beruf entschieden, aber sie verdiente mit ihren Modeljobs in der Gegend gutes Geld. Sie hätte nach New York gehen und dort ihr Glück versuchen können, aber dazu fehlte ihr der Antrieb.
Wyatt und ich stiegen aus. Siana sah mich an, stieß einen leisen Schrei aus und brach, noch während sie auf mich zugelaufen kam, in Tränen aus.
Sie sah aus, als wollte sie mich mit aller Kraft drücken, doch plötzlich blieb sie stehen, streckte die Hand aus, um mich zu tätscheln, und ließ sie dann wortlos wieder sinken. Die
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