Die Doppelgaengerin
und ganz besonders heute eine Menge durchgemacht, und ich hätte dich nicht provozieren dürfen, auch wenn ich noch so frustriert bin.« Er küsste mich noch mal, und seine Stimme wurde heiser. »Als du über die Kreuzung geschleudert bist und dich das erste Auto rammte, dachte ich, mein Herz hört zu schlagen auf.«
Na schön, wozu sollte es gut sein, nachtragend zu sein? Ich ließ meinen Kopf an seine Brust sinken und versuchte, nicht an die grauenvolle Angst zu denken, die mich heute Morgen gepackt hatte. Wenn es schon für mich so schlimm gewesen war, wie war es dann wohl für ihn gewesen? Ich weiß, wie ich mich gefühlt hätte, wenn ich hinter ihm gefahren wäre und beobachtet hätte, wie er totgefahren wurde, was er im ersten Moment unter Garantie befürchtet hatte.
»Dein armes kleines Gesicht«, murmelte er, strich mir die Haare aus der Stirn und sah mich prüfend an.
Ich hatte nicht den ganzen Tag damit verplempert, tatenlos auf dem Revier herumzusitzen und darauf zu warten, dass mein Gesicht an- und meine Augen zuschwollen. Ein Polizist hatte mir eine Plastiktüte gebracht, die ich mit Eis gefüllt und in kurzen Abständen auf mein Gesicht gelegt hatte, weshalb ich vielleicht scheiße aussah, aber bestimmt nicht so scheiße, wie ich hätte aussehen können. Außerdem hatte ich ein hautfarbenes Pflaster quer über meine Nasenwurzel geklebt. Wahrscheinlich sah ich aus wie eine Profiboxerin nach einem verlorenen Kampf.
»J.W.«, sagte jemand, und wir drehten uns beide zu einem grauhaarigen Mann in einem grauen Anzug um. Bei seiner Haarfarbe hätte er meiner unmaßgeblichen Ansicht nach einen bunteren Anzug tragen sollen oder zumindest ein blaues Hemd, um nicht ganz so farblos zu wirken. Vielleicht hatte seine Frau einfach keinen Modegeschmack. Er war kurz und gedrungen und sah auf den ersten Blick aus wie ein Geschäftsmann, aber als er näher kam, konnte ich erkennen, wie bohrend sein Blick war.
»Chief«, sagte Wyatt, woraus ich (messerscharf!) schloss, dass dies Wyatts Vorgesetzter, der Polizeichef, war. Ich konnte mich nicht entsinnen, ihm schon einmal begegnet zu sein; im Moment konnte ich mich nicht einmal an seinen Namen erinnern.
»Ist das die junge Dame, über die das gesamte Revier spricht?«, fragte der Chief und musterte mich dabei mit offener Neugier.
»Das ist sie«, bestätigte Wyatt. »Chief, meine Verlobte Blair Mallory. Blair, unser Polizeichef William Gray.«
Ich widerstand dem Impuls, ihm einen Arschtritt zu verpassen – Wyatt, nicht dem Polizeichef –, und schüttelte stattdessen die Hand des Polizeichefs. Also, ich wollte sie jedenfalls schütteln, aber Chief Gray hielt meine Hand nur kurz in seinem schlaffen Griff, als hätte er Angst, mir wehzutun. Nachdem Wyatt vorhin über mein »armes kleines Gesicht« gesprochen hatte und mich der Chief wie ein rohes Ei behandelte, hatte ich jetzt Angst, dass ich wesentlich schlimmer aussah als bei meinem letzten Blick in einen Spiegel.
»Was heute Morgen passierte, ist ganz schrecklich«, sagte der Chief tiefernst. »Wir haben nur wenige Mordfälle in unserer Stadt und möchten, dass das so bleibt. Wir werden diesen Fall klären, Miss Mallory; darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
»Danke«, sagte ich. Was sollte ich auch sagen? Aber dalli? Die Detectives wussten, was sie zu tun hatten, und ich verließ mich darauf, dass sie gut waren – so wie ich in gewissen Dingen gut war. Ich sagte: »Sie haben wirklich schönes Haar. Ich wette, wenn Sie ein blaues Hemd tragen, sieht es ganz phantastisch aus, nicht wahr?«
Er sah mich sprachlos an, und Wyatt kniff mich heimlich in die Seite. Ich beachtete ihn nicht.
»Also, wenn Sie es sagen …«, meinte Chief Gray mit jenem Lachen, das alle Männer von sich geben, wenn sie sich gleichzeitig geschmeichelt und unwohl fühlen.
»Allerdings«, versicherte ich ihm. »Am besten königsblau. Ich wette, Sie haben zu Hause zehn blaue Hemden, weil Sie so gut damit aussehen.«
»Königsblau?«, wiederholte er fassungslos. »Ich weiß nicht recht …«
»Natürlich.« Ich lachte. »Für einen Mann ist blau einfach blau, ohne dass es einen dieser komischen Namen haben muss, nicht wahr?«
»Richtig«, meinte er sichtlich ratlos. Er räusperte sich und trat einen Schritt zurück. »J.W, halten Sie mich über den Fortgang der Ermittlungen auf dem Laufenden. Der Bürgermeister hat sich schon erkundigt.«
»Selbstverständlich«, sagte Wyatt und schob mich eilig zu seinem Wagen, während der Chief dem Eingang
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