Die Drachenkämpferin 03 - Der Talisman der Macht
ein Teil des Firmaments auf die Erde gefallen, als Geschenk der Götter an jenes fleißige Volk, das dort lebte. Prächtige Wälder überall, in allen Schattierungen von Grün: dunkel in dichterer Vegetation, hell dort, wo die Blätter gerade erst gesprossen waren, smaragdgrün, wo besonders viel Wasser aus den Quellen sprudelte. Dies war das Land der Tage, das Land, in dem Nihals Vorfahren über Jahrhunderte gelebt hatten, das Land, das sie zu lieben spürte und dem sie sich zugehörig fühlte. Ein Ort, an dem sie sich nicht als Fremde fühlen konnte.
Ich hin daheim... endlich daheim...
Dann öffnete sie die Augen, und die Wirklichkeit holte sie wieder ein. Nichts von dem, was sie gesehen hatte, existierte noch. Die Wälder waren größtenteils von einer Wüste verschlungen worden, abgeholzt von Fammin, um Befestigungsanlagen zu bauen und Platz für neue Kasernen zu schaffen. Die Blumenwiesen hatte der Rauch erstickt. Das klare Wasser war verschmutzt oder versiegt, die reine Luft verpestet. Die jetzt schon viele Jahre währende Herrschaft des Tyrannen hatte alles Schöne dieser Gegend hinweggefegt. Noch nicht einmal Spuren davon waren geblieben. Die letzten Bruchstücke durfte Nihal hüten, die dieses Land so sehen konnte, als habe sie selbst dort gelebt.
»Nihal, was ist los mit dir?«, flüsterte Sennar.
Nihal riss sich zusammen. Sie spürte, dass ihre Wangen feucht von Tränen waren. Mit dem Handrücken fuhr sie darüber und deutete in die Ferne, in Richtung der Sümpfe. »Dort stand Seferdi, die Hauptstadt, ›Weiße Stadt‹ genannt. Kein Kristall der gesamten Aufgetauchten Welt habe so herrlich geglänzt wie der königliche Palast, erzählte man, und auf viele Meilen hin habe man sein Glitzern gesehen.« Sie zeigte auf eine andere Stelle. »Dort unten war der Alte Wald von Bersith, den König Nammen so liebte.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte Sennar flüsternd.
»Durch die Geister, die mir erscheinen. Was hat man bloß aus meiner Heimat gemacht?«
Sennar trat noch näher zu ihr und nahm sie in den Arm.
Beim Abstieg ins Tal verhielten sie sich so vorsichtig wie möglich und entschieden sich immer für die unwegsamsten Pfade und Wege, auch wenn es einen Umweg bedeutete und sie dadurch erheblich länger brauchten. In der weiten Ebene unter ihnen wimmelte es sicher von Fammin.
Als es dunkel wurde, fanden sie Zuflucht in einer dunklen feuchten Höhle, die ihnen in einer Bergflanke aufgefallen war. Dort machte sich Nihal sogleich daran, den Talisman zu befragen. Es fiel ihr schwer, sich zu sammeln, denn die dröhnenden Stimmen in ihrem Kopf wollten einfach nicht schweigen. Schließlich aber erkannte sie, welche Richtung sie einschlagen mussten.
»In der Wüste, ein Palast ... weiter östlich.«
»Na toll, dieses ganze vermaledeite Land ist eine einzige Wüste ...«, bemerkte Sennar. »Nur um hierher zu gelangen, haben wir zwei Wochen gebraucht. Und mich friert hier, obwohl es doch Frühling ist.«
Sie beschlossen, am Fuß der Berge entlang weiterzuziehen, bis die Städte hinter ihnen lägen und die ersten Ausläufer der Wüste in Sicht kämen. Während der ersten Tage ihrer Wanderung fühlten sie sich noch sicher. Sie stießen weder auf Dörfer noch auf Wachsoldaten: überall Einöde.
Mit der Zeit wurde Nihal immer abweisender und verschlossener. Wenn Sennar das Wort an sie richtete, antwortete sie nur einsilbig. Sie schaffte es nicht mehr, der Stimmen in ihrem Schädel Herr zu werden, die unablässig auf sie einredeten. Es war wie ein Sprechgesang im Takt ihrer Schritte, dessen Bedeutung sie oft nicht verstand, Worte, Stimmen, Seufzer, Schreie, abgerissene Sätze, die von Tod und Massakern erzählten. Wenn die Nacht herabsank und sie endlich einschlafen konnte, quälten die Träume sie so arg, dass sie froh war, wenn sie endlich die Wache übernehmen konnte. Hatte sich Nihal früher die Wüste vorgestellt, so hatte sie an tiefrote Sonnenuntergänge über einem Meer von Sanddünen, an eine menschenleere, aber wunderschöne, wilde Landschaft gedacht.
Die Gegend, die sie nach fünftägiger Wanderung im Morgengrauen erreichten, war völlig anders. Hier und dort erhoben sich zwar einige Dünen, aber darüber hinaus war es ein hartes, ausgedörrtes, mit grauem Kies bedecktes Land. Sogar die karge Vegetation hatte etwas Bedrohliches. Es waren bräunliche oder giftgrüne Pflanzen mit langen Dornen und eigentümlichen Blüten. In grotesken Formen streckten sie sich dem bleiernen Himmel entgegen und
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