Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
Vom Netzwerk:
auf den Friedhof von Montrouge kommen. Es ist dringend.«
    »In Anbetracht der Tatsache, daß er in eine Tiefe von 12000 Jahren vor Christus abgetaucht ist, würde er Ihnen sagen, es eilt nicht. Und nichts bringt Mathias dazu, sich von seinen Feuersteinen loszureißen.«
    »Ich schon, Vandoosler, verflucht! Wenn Sie mir nicht helfen, werden Sie den Leuten vom Drogendezernat ein verdammtes Geschenk machen.«
    »Das ist was anderes. Ich schicke ihn zu Ihnen rüber.«

16
    »Was erwarten wir von ihm?« fragte Justin, während er sich im Wärterhäuschen die Hände an einer Tasse Kaffee wärmte.
    »Das, was der Neue gesagt hat. Daß er der Erde ihr Geheimnis entlockt. Ihre zwölffüßigen Wendungen haben allerhand Vorteile, Veyrenc.«
    Der Wärter blickte Veyrenc neugierig an.
    »Er dichtet«, erklärte Adamsberg.
    »An solch einem Tag?«
    »Vor allem an solch einem Tag.«
    »Gut«, sagte der Wärter, umgänglicher geworden. »Die Poesie ist vor allem dazu da, die Dinge komplizierter zu machen, oder? Aber wenn man sie komplizierter macht, versteht man sie vielleicht besser. Und wenn man sie besser versteht, kommen sie einem einfacher vor. Letzten Endes.«
    »Ja«, sagte Veyrenc überrascht.
    Retancourt war wieder bei ihnen, sie sah ausgeruht aus. Der Kommissar hatte sie geweckt, indem er einfach mit dem Finger auf ihre Schulter getippt hatte, wie man auf einen Knopf drückt. Durch das Fenster des Häuschens sah sie, wie ein blonder Riese über die Straße lief, kaum bekleidet, Haare bis zur Schulter, dessen Hose mit einer Kordel zusammengehalten wurde.
    »Das ist unser Dolmetscher«, sagte Adamsberg. »Er lächelt oft, aber man weiß nicht immer, worüber.«
     
    Fünf Minuten später kniete Mathias neben dem Grab und studierte den Boden. Adamsberg gab seinen Beamten zu verstehen, sie mögen leise sein. Die Erde spricht nicht laut, da muß man gut aufpassen.
    »Sie haben auch wirklich nichts angefaßt?« fragte Mathias. »Niemand hat die Lage der Rosenstengel verändert?«
    »Nein«, sagte Danglard, »genau das ist ja die Frage. Die Familie hat auf der gesamten Oberfläche des Grabes Blumen verteilt, und anschließend ist die Steinplatte darübergelegt worden. Was beweist, daß die Erde nicht angerührt wurde.«
    »Stengel ist nicht gleich Stengel«, sagte Mathias.
    Er strich kurz über jede einzelne Rose, kroch auf Knien um das Grab herum, tastete die Erde an verschiedenen Stellen ab, wie ein Weber die Qualität eines Seidenstoffs prüft. Dann hob er den Kopf und lächelte Adamsberg an.
    »Hast du gesehen?« sagte er.
    Adamsberg schüttelte den Kopf.
    »Manche Stengel lösen sich ab, sobald man sie leicht berührt, und manche sitzen ganz fest im Boden. Diese hier liegen alle an ihrem Platz«, sagte er und zeigte auf die Blumen auf dem unteren Teil der Grabstätte. »Aber die dort liegen auf der Oberfläche, sie wurden verschoben. Siehst du’s?«
    »Ich höre dir zu«, sagte Adamsberg stirnrunzelnd.
    »Das bedeutet, in dem Grab wurde gegraben«, fuhr Mathias fort, wobei er vorsichtig die Stengel am Kopfende des Grabes entfernte, »aber nur in einem Teil. Anschließend sind die verwelkten Blumen wieder auf die zugeschüttete Stelle draufgelegt worden, damit man es nicht sieht. Aber man merkt es trotzdem. Siehst du«, sagte er und stand in einer einzigen Bewegung auf, »ein Mensch verrückt einen Rosenstengel, und tausend Jahre später kannst du’s noch erkennen.«
    Beeindruckt gab Adamsberg ihm recht. Wenn er heute abend also das Blütenblättchen einer Blume berührte, heimlich und ohne daß jemand davon erfuhr, würde ein Typ wie Mathias das in tausend Jahren noch rauskriegen. Die Vorstellung, daß alle seine Gesten ihre unwiderruflichen Spuren hinterließen, erschien ihm ziemlich besorgniserregend. Aber er beruhigte sich mit einem Blick auf den Prähistoriker, der eine Kelle aus seiner Gesäßtasche zog und das Werkzeug mit den Fingern blank rieb. Solche Burschen traf man nicht alle Tage.
    »Es ist sehr schwierig«, sagte Mathias und verzog das Gesicht. »Es ist ein Loch, das man sofort wieder mit seinem eigenen Erdinhalt zugeschüttet hat. Es ist unsichtbar. Es wurde also gegraben, aber wo?«
    »Kannst du’s nicht finden?« fragte Adamsberg plötzlich nervös.
    »Nicht mit den Augen.«
    »Und wie dann?«
    »Mit den Fingern. Wenn man nichts sehen kann, kann man immer noch fühlen. Das dauert bloß länger.«
    »Was denn fühlen?« fragte Justin.
    »Die Begrenzungen der Grube, den Zwischenraum zwischen ihrem Rand und

Weitere Kostenlose Bücher