Die dunkle Seite der Dinge
heran. „Nicht schlecht“,
murmelte sie. „Jetzt kann man tatsächlich etwas erkennen.“
Ein Geräusch an der Tür
ließ Wellinger aufschauen. Verblüfft betrachtete er den
jungen Mann, der den Raum betrat.
„ Hey“, sagte dieser
freundlich und kam näher.
„ Das ist Julian“,
sagte Franziska.
„ Hallo“, brachte
Wellinger endlich hervor. Irritiert bemerkte er, dass auch Julians
Haare im Nacken feucht waren. Noch während er sich darüber
wunderte, beugte sich der junge Mann zu Franziska hinunter und küsste
sie auf den Mund. „Ruf mich an, wenn du Hilfe brauchst“,
flüsterte er ihr ins Ohr, bevor er durch die Tür
verschwand.
Verlegen drehte Wellinger den
Becher in seinen Händen. Dann nahm er einen großen
Schluck, spuckte den Kaffee aber sofort wieder zurück in die
Tasse. Er hatte sich höllisch den Mund verbrannt.
Franziska lehnte am Esstisch und
beobachtete ihn gelassen. „Er ist elf Jahre jünger.“
Ihre offenen Worte beschämten
ihn. War er wirklich so altmodisch? „Schon in Ordnung“,
brummte er, doch Franziska hatte sich schon längst wieder den
Unterlagen zugewandt. Er betrachtete sie verstohlen. Zu seiner Scham
schlich sich ein neues Gefühl und diese neue Regung mochte er
ganz und gar nicht leiden.
Jan blickte der Staubwolke nach,
die den Professor aus dem Flüchtlingslager forttrug. Er
verspürte eine tiefe Erleichterung über Grünwalds
Abreise. Das Treffen war ein einziges Desaster gewesen und keiner der
beiden Männer hatte die Unstimmigkeiten ignorieren können.
Niemand machte einen Hehl daraus, dass er den anderen nicht nur
unsympathisch fand, sondern sogar aus tiefstem Herzen ablehnte. Am
Ende ihres Zusammentreffens hatten sie sich heftig gestritten und
unerbittlich ihre Positionen bezogen, obwohl sie doch ein gemeinsames
Ziel vor Augen hatten. Jedenfalls war Jan bis zu diesem Zeitpunkt
davon ausgegangen. Er schauderte, wenn er an die pathetisch gehaltene
Rede des Professors zurückdachte.
Die Welt braucht Männer
mit Visionen! Männer von meinem Kaliber ,
hatte er mit stolzgeschwellter Brust getönt. Siebers,
Sie sind kein Mann, Sie sind ein Schaf, wenn Sie nichts riskieren.
Aber ich befürchte, dass Sie auch ein Mensch ohne jede
Leidenschaft sind und deshalb werden Sie nie den Lauf der Welt
beeinflussen! Verächtlich hatte der Professor auf den jungen Kollegen
herabgeblickt und dieser hatte den beleidigenden Worten nichts
entgegenzusetzen gewusst.
Als Grünwald nach zwei Tagen
seine Abreise ankündigte, sicherte er Jan zwar weitere Hilfe zu,
doch dieser ahnte, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er als
leitender Arzt des Flüchtlingslagers abgelöst werden würde.
Auch Esther würde daran nichts ändern. Letztendlich hielt
der Professor die Fäden in der Hand. Trotzdem war sie
optimistisch geblieben. Sie würde Grünwald auf seinem Weg
nach Deutschland begleiten und ihm schon den Kopf zurecht rücken.
Jan sollte erst einmal die Füße still halten. Aber so sehr
er Esther schätzte, was wusste sie schon über die
wirklichen Zustände im Lager? Er hätte mit ihr reden
müssen, bevor sie nach Deutschland abgereist war. Jetzt war er
dazu verdonnert zu warten, bis sie zurück kam. Verwirrt und
gedemütigt hockte er in seinem Zelt. Er fuhr zusammen, als ihm
eine Hand sachte durch sein Haar strich.
„ Don't be sad“,
wisperte Mahima. „You are a good man and we all know that.“
Sie küsste ihn zärtlich und schlüpfte wieder hinaus
ins Freie. Traurig blickte er ihr hinterher, dann legte er sich auf
das schmale Feldbett, um neue Kraft zu schöpfen, doch kaum hatte
er die Augen geschlossen, stürmten die Gedanken auf ihn ein, so
dass er keine Ruhe finden konnte. Von den quälenden Gedanken
getrieben setzte er sich auf und begann, fieberhaft in sein Tagebuch
zu schreiben.
'Grünwald hat Unrecht,
wenn er behauptet, mir fehle es an Visionen, aber bei aller
Leidenschaft bin ich auch stets gezwungen, mir die Frage zu stellen,
wo meine eigenen Grenzen anfangen und die Freiheit der anderen und
ihr Recht auf Selbstbestimmung beginnt. Kann es wirklich sein, dass
sich durch diese schreckliche Katastrophe, die wir gerade in einem
nie gekannten Ausmaß erleben, die Grenzen verschieben? Kann die
Antwort, die ich so dringend suche, unter diesen barbarischen
Umständen womöglich anders ausfallen, als ich gedacht habe?
Nein, ich bin nicht davon überzeugt! Ungeachtet der äußeren
Umstände, müssen wir die Würde jedes einzelnen
Menschen bewahren, denn sie ist das Wertvollste,
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