Die dunkle Seite der Dinge
glotzte sie auf ihn herab. Und erst jetzt sah
er, dass sie nicht allein war. Ihre Gestalt wurde von zwei jungen
Frauen umrahmt. Es waren die Frauen, die er hatte töten müssen.
Und da war auch Mike, der ihm zulächelte. Eno fiel auf die Knie.
Mit der flachen Hand schlug er sich auf den Kopf. Wieder und immer
wieder. Er bemerkte weder die Menschen, die ängstlich einen
weiten Bogen um ihn machten, noch die Jugendlichen, die lachend mit
dem Finger auf ihn zeigten und ihm Obszönitäten zuriefen.
Er keuchte, dann schrie er auf und rannte. Er würde rennen, bis
es kein Morgen gab. Die Jugendlichen schauten ihm überrascht
hinter her und tippten sich an die Stirn. Wie sollten sie es auch
wissen? Sie sahen nicht, was er sah. Zwischen der Göttin, Mike
und den beiden Frauen hatte er eine weitere Person entdeckt. Man
hatte Eno über Nacht sein Gesicht gestohlen und auf Papier
gebannt.
„ Lass es mich noch einmal
selbst zusammenfassen.“ Wellinger hatte Franziska aufmerksam
zugehört und auch, wenn sie sich die größte Mühe
gegeben hatte, ihr Medzinerlatein in verständliche Sprache zu
übersetzen, hatte er das Gefühl, noch nicht einmal die
Hälfte verstanden zu haben.
Sie nickte ihm aufmunternd zu.
„Dann versuche dein Glück.“
Er leerte seinen Espresso und
atmete einmal tief durch. „Also, wir haben auf der einen Seite
einen Wissenschaftler und auf der anderen Seite eine Krankheit, die
es zu bekämpfen gilt. Um gegen die Krankheit gerüstet zu
sein, macht sich unser Wissenschaftler auf die Suche nach einem
Wirkstoff. Den wird er natürlich nicht einfach so an der
nächsten Straßenecke finden. Wahrscheinlicher ist, dass er
ihn selbst kreieren muss. Was muss er also dafür tun? Er wählt
Moleküle aus, die spezielle Eigenschaften mit sich bringen. Eine
Vielzahl solcher Moleküle findet er in sogenannten Bibliotheken.
Die sind weltweit angelegt, hast du gesagt. Aus ihnen wählt er
einige Kandidaten aus, von denen er hofft, dass sie einen chemischen
Stoff bilden, der als Ausgangspunkt erfolgreich gegen die Krankheit
vorgeht.“
„ Richtig, die sogenannte
Leitstruktur“, stimmte Franziska zu und machte sich genüsslich
über ihre Creme Brûlée her.
Wellinger griff ihre Ergänzung
dankbar auf. „Diese Leitstruktur ist aber erst der Anfang.
Natürlich ist sie noch nicht optimal beschaffen, sondern sie
muss durch chemische und biochemische Experimente verbessert werden.
Das heißt, unser Wissenschaftler verändert die Struktur
der Moleküle.“
„ Das sogenannte
Molekulardesign“, nickte sie und durchbrach die krosse
Oberfläche ihres Desserts.
„ Ja, ja“, unterbrach
er sie ungeduldig. „Ich habe zwar keine Vorstellung, wie das
vonstatten gehen soll, aber das macht nichts.“ Wellinger
bestellte für sie beide noch einen weiteren Espresso und fuhr
fort. „Unser Forscher experimentiert so lange, bis die Moleküle
die größtmögliche Effizienz zeigen, also, bis er sie
nicht weiter verbessern kann. Diese ganzen Experimente finden
ausschließlich im Labor statt. In Reagenzgläsern oder in
Petrischalen. Die kenne sogar ich noch aus dem Chemieunterricht.“
„ Richtig, in vitro!“,
nickte sie. „Ich bin stolz auf dich. Mal sehen, ich glaube, du
bekommst ein Zwei.“
„ Echt?“ Wellinger
strahlte über das ganze Gesicht.
„ Na ja, eine Zwei Minus“,
versuchte Franziska ihn zu ärgern.
„ Zwei Minus ist für
mich auch spitze.“ Wellinger ließ sich nicht beirren und
Franziska schob sich einen weiteren Löffel der süßen
Creme in den Mund. Genüsslich schloss sie die Augen.
„ Ich mach dann mal weiter.
Hörst du mir auch zu?“
„ Klar!“, nuschelte
sie.
„ Na hoffentlich“,
murmelte er und setzte in seinen Erklärungen fort. „Schon
während die Leitstrukturen optimiert werden, trifft unser
Wissenschaftler erste Vorhersagen zu Nebenwirkungen und
unbeabsichtigten Wechselwirkungen. Da er aber nicht mit absoluter
Gewissheit vorhersagen kann, wie sich die Wirkstoffe in vivo, also im
lebenden Objekt verhalten, werden sie an Tieren getestet. Das sind
die sogenannten präklinischen Tests. Gehen diese Versuche
glimpflich aus, beginnt die nächste Phase, die klinische
Forschung am Menschen.“
Beifallheischend sah Wellinger
zu Franziska hinüber, doch diese widmete ihre ganze
Aufmerksamkeit der Dessertschüssel, die sie akribisch mit ihrem
Löffel auskratzte.
„ Franziska!“
Enttäuschung breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„ Was denn? Es war ja alles
richtig. Sobald du einen Fehler
Weitere Kostenlose Bücher