Die dunkle Seite des Sommers (German Edition)
paar Informationen geben?«
»Willst du dir wirklich
freiwillig den Rest des Tages verderben?« Als Hackenholt schwieg, fuhr Mur
gereizt fort: »Ich weiß nicht, ob es Jonas ist. Ich weiß es einfach nicht!« Sie
schrie die letzten Worte hinaus. Ihre Nerven lagen blank. Nachdem sie ein
paarmal tief durchgeschnauft hatte, war sie wieder ein wenig ruhiger: »Ich habe
von Jonas’ Zahnarzt einen Zahnstatus angefordert. Er wollte mir die Unterlagen
noch heute zumailen, bis morgen habe ich sie auf alle Fälle. Der Tote ist
männlich, aber mehr kann ich dir im Moment nicht sagen. Das sind keine
Leichenteile mehr, das sind nur noch …« Sie schluckte hörbar. »Wenn wir ihn
nicht über die Zähne identifizieren können, dann hilft nur noch eine DNA -Analyse. Du kannst dir nicht
vorstellen, wie furchtbar das alles hier ist.« Im Hintergrund hörte Hackenholt
jemanden nach ihr rufen. »Ich muss jetzt wieder rein. Wir sehen uns dann morgen
um neun.«
Hackenholt legte auf und ging zu
Sophie ins Wohnzimmer. »Ich muss morgen früh in die Arbeit.«
Sie blickte von dem Buch, in dem
sie gerade las, auf und verzog das Gesicht. Im letzten Moment schluckte sie den
Satz »Tu, was du nicht lassen kannst« hinunter. Sie wusste, dass es Hackenholts
Pflichtbewusstsein war, das ihn dazu trieb, trotz seiner Krankschreibung zu
arbeiten, daher nickte sie lediglich.
Samstag
Der Samstag wurde
schlimmer, als Hackenholt es sich in seinen abartigsten Alpträumen hätte
zusammenspinnen können. Ein Tag, den er am liebsten sofort aus seinem
Gedächtnis gestrichen hätte, doch die grausamen Szenen hatten sich ihm
unauslöschlich ins Gehirn eingebrannt. Schon als er den Autopsieraum betrat und
auf den Sektionstisch schaute, wurde ihm flau im Magen. Schnell wandte er sich
ab.
»Sie haben jedes Körperteil
einzeln in Plastikfolie eingewickelt«, erklang Christine Murs Stimme hinter
ihm. Sie hörte sich rauer an als sonst. Hackenholt drehte sich um. Die Leiterin
der Spurensicherung war bleich und hatte tiefe Ringe unter den Augen.
Offensichtlich hatte sie in der Nacht kaum geschlafen.
Der Hauptkommissar wappnete sich
und stand den Anfang der Obduktion stoisch durch, doch dann nahmen seine
Kopfschmerzen proportional mit dem Geräuschpegel der Säge zu. Vor seinem
inneren Auge flackerte das Bild der Wohnung in der Kollwitzstraße auf. Der
Zementstaub, die Betonbrocken, das Werkzeug, die Teile der zersägten Mülltonne.
Jedes Wort, mit dem Dr. Puellen bewusst monoton die Verletzungen beschrieb,
ließ seinen Magen stärker zusammenkrampfen. In dem Augenblick, in dem er anhand
des Zahnschemas zweifelsfrei feststellte, dass es sich bei den vor ihm
liegenden sterblichen Überresten um Jonas Petzold handelte, war es um
Hackenholt geschehen. Er wandte sich um und wankte aus dem Raum. Draußen lehnte
er sich an die Wand und versuchte gleichmäßig zu atmen. Ein plötzlicher Schwindel
erfasste ihn, und er schloss die Augen. War es das erlittene
Schädel-Hirn-Trauma, oder wurde er für so etwas zu alt? Übelkeit stieg in ihm
hoch. Er schaffte es gerade noch bis zur Herrentoilette, dann erbrach er sich.
Als die Tür hinter ihm aufging,
trat Christine Mur in den kleinen Raum. »Es tut mir leid. Ich habe nur an mich
gedacht. Ich wollte dich unbedingt dabeihaben, aber ich hätte dich nicht
anrufen sollen. Du bist doch noch krank …« Sie war den Tränen nahe.
Hackenholt drängte sich an ihr vorbei
zum Waschbecken, spülte zuerst seinen Mund aus, wusch sich dann die Hände und
das Gesicht. Immer wieder fing er das kühle Wasser in seinen zu einer Schale
geformten Händen auf und tauchte sein Gesicht hinein. Als er etwas ruhiger
geworden war, richtete er sich wieder auf und sah Mur im Spiegel an.
»Ich glaube, ich werde langsam
zu alt für diesen Job. So viel Gewalt, ausgelassen an einem einzigen Menschen,
ist mir bisher noch nie untergekommen. Wo soll das bloß hinführen? Das ist eine
ganz neue Kaltschnäuzigkeit. Vielleicht machen es die Amis doch richtig, wenn
sie ihren Polizisten nach zwanzig Dienstjahren die Möglichkeit geben, sich in
den Ruhestand versetzen zu lassen.«
»Jetzt hör aber auf. Was da
passiert ist, lässt niemanden kalt. Außerdem hast du dir die Fähigkeit bewahrt,
den Menschen hinter dem Toten zu sehen, und bist nicht abgestumpft. Gerade das
macht dich doch aus. Wir hatten noch nie ein so gutes Team im K 11 wie jetzt,
und für das ruhige Arbeitsklima bist alleine du verantwortlich. Wenn ich da an
deinen Vorgänger denke …« Sie
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