Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
hatte der Lehrer die Schüler zu einer Textinterpretation aufgefordert. Lächelnd dachte er an den Roman und an seinen damaligen Lehrer. Es war ein hochgewachsener, älterer Mann kurz vor der Pensionierung gewesen; ein Exzentriker, der seine Klasse vor der Französisch- oder Lateinstunde fünf Minuten lang Entspannungsübungen machen ließ. Stehend und mit geschlossenen Augen sollten die Schüler ihren Geist leeren. Natürlich musste immer irgendwer kichern, oder jemand machte Lärm mit seinen Schuhen – kurz, es gab immer den einen oder anderen, dem eine Strafarbeit aufgebrummt wurde. Mit halb geschlossenen Augen beobachtete der Lehrer diejenigen, die über die Stränge schlugen, und murmelte leise: »Mistral, Strafarbeit.« Die Jugendlichen nannten diese Übungen »Yoga«. Mitschüler, die sich vor dem Klassenzimmer herumtrieben, machten gern laut dumme Bemerkungen, um die Kameraden zum Lachen zu reizen, die sich den zur Entspannung und Konzentration gedachten »Yoga«-Übungen widmen mussten. Als er über den Lehrer nachdachte, fiel Mistral auf, dass sie als Schüler von dreizehn oder vierzehn Jahren noch viel zu jung gewesen waren, um diesen wahrhaft gebildeten und humorvollen Mann richtig schätzen zu können.
Gleich im ersten Kapitel von Nachtflug hatte der junge Mistral die Worte Buenos Aires und Patagonien gelesen. Buenos Aires, das wusste er, war die Hauptstadt von Argentinien, doch von Patagonien hatte er noch nie gehört. Nachdem er das ganze Buch gelesen hatte, war er neugierig auf Patagonien und Kap Hoorn geworden und wollte mehr erfahren. Er entschloss sich, Seemann zu werden.
Einige Wochen später besuchte er mit seiner Klasse den Hafen von Marseille. Unbemerkt ließ er seine Mitschüler stehen und kletterte auf ein Handelsschiff. Fast drei Stunden suchte man nach ihm. Schließlich wurde er von einem Besatzungsmitglied gefunden und zur Hafenmeisterei gebracht. Der Lehrer hatte die Behörden alarmiert, denn er befürchtete, der junge Ludovic wäre ins Wasser gefallen. Erfüllt von Erleichterung, den Jungen lebend wiederzufinden, aber mit dem unguten Gefühl, sich lächerlich gemacht zu haben, brummte er seinem Schüler eine saftige Strafe auf. Noch am gleichen Abend erhielt Mistrals Vater einen geharnischten Brief des Direktors. Ludovic erwartete, von seinem Vater »eins auf den Deckel« zu bekommen, wie sein Erzeuger sich auszudrücken pflegte.
Doch stattdessen holte der Vater einen großen Atlas aus dem Regal, zeigte ihm die Karte Südamerikas und erzählte seinem Sohn Geschichten über Patagonien, Chile, Argentinien und von Kap Hoorn. Verunsichert überlegte Ludovic, worauf sein Vater hinaus wollte. Der fragte ihn nach seinen Erzählungen, ob er vorgehabt habe, es Jules Verne gleichzutun. Dieser soll ja mit elf Jahren versucht haben, sich einzuschiffen, um seiner kleinen Cousine eine Halskette zu besorgen. Ludovic errötete und stammelte eine undeutliche Antwort. Der Vater, den die Kühnheit seines Sohnes, heimlich ein Schiff zu besteigen, im Grunde amüsierte, hielt ihm einen langen Vortrag über die Gefahren solcher Eskapaden.
In den folgenden Sommerferien flogen Vater und Sohn nach Argentinien, fuhren mit dem Bus nach Patagonien, bestiegen in Ushuaia ein Schiff, umrundeten Kap Hoorn und gingen in Valparaíso in Chile wieder an Land. Die Reise mit dem Vater war für Ludovic ein unvergessliches Erlebnis. Die gemeinsamen Gespräche während dieser Ferien blieben ihm für immer im Gedächtnis.
Zwei Stunden später klappte Mistral das Buch zu, das so viele Erinnerungen in ihm wachgerufen hatte, legte den Roman zur Seite und nahm sich vor, die Reise eines Tages mit seinen eigenen Söhnen zu wiederholen.
Mit einer Tasse Kaffee setzte er sich in den Garten und hörte leise die Nachrichten. Schließlich duschte er und frühstückte mit Clara, die statt des geplanten Wochenendes in Honfleur einen Besuch des Flohmarktes in Saint-Ouen plante. Sie verstand die beruflichen Anforderungen ihres Mannes, nahm sich aber vor, noch am selben Abend mit ihm über seine Schlaflosigkeit zu sprechen. Sie fühlte sich hilflos, weil Ludovic jede Hilfe ablehnte.
Auf dem Weg ins Büro telefonierte Mistral mit dem Führungsstab und dem nächtlichen Bereitschaftsdienst, ehe er sein Autoradio auf den Sender FIP einstellte.
Den Mann erfüllte die Leere nach der Tat. Zwar war er auf die Folgen des von ihm angerichteten Chaos gespannt, gleichzeitig aber fürchtete er das Resultat. Er kehrte in die Rue Moncey zurück.
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