Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
Vielleicht hatte er am Abend zuvor nicht richtig hingeschaut, und sein Rucksack war doch noch dort. Aber so oft er sich auch bückte und unter den Autos nachsah – der Rucksack war und blieb verschwunden. Als er in seinen Ford stieg, verspürte er einen dicken Knoten im Magen. Er schaltete das Autoradio ein, das wie immer auf FIP eingestellt war. Eine Viertelstunde später hielt er vor einer Telefonzelle und bat darum, mit einer der Moderatorinnen sprechen zu dürfen. Die Telefonistin, dessen war er sicher, kannte ihn bereits. Brüsk erwiderte sie, er möge die Anrufe unterlassen, und legte auf. Der Mann schwor sich, nicht aufzugeben, obwohl er nichts davon hatte.
Nach dem üblichen Morgenmeeting blieb Mistral noch eine Weile im Büro von Bernard Balmes, um ihm über die Vielzahl der Probleme im Fall Norman zu berichten.
»Wenn der Typ also heute wieder anruft und eine seiner Bekannten als vermisst meldet, hast du die Arschkarte«, bemerkte Balmes lakonisch. »Erst recht, wenn es dann auch noch zu einem dritten Mord kommt. Dann gibt es Zirkus, und zwar richtig mit Löwen und Clowns. Und mit dir mitten drin.«
Mistral mochte Balmes’ Ausdrucksweise. So weltgewandt der stellvertretende Direktor sich in der Öffentlichkeit gab, so farbenfroh war seine Bildsprache im Kreis der Kollegen. Schon so mancher junge Kommissar hatte sich bei den ersten Begegnungen sehr gewundert.
»Um ehrlich zu sein, ich erwarte es geradezu. Heute oder nie. Oder es passiert irgendwann, aber dann wissen wir, was uns erwartet ...«
Das Briefing mit Dalmate und seinem Team dauerte über eine Stunde. Calderone bat Dalmate im Anschluss, noch einen Moment zu bleiben.
»Hattest du Gelegenheit, dich mit dem Bibelwort zu beschäftigen, das wir bei der Norman gefunden haben?«
»Ich habe mich bemüht, aber ich habe keine Verbindung zwischen dem Tod der Frau und The Sun Also Rises finden können.«
»Vielleicht gibt es ja gar keine«, seufzte Mistral. »Mir gehen diese Rätsel und der ganze Mist auf den Wecker. Es ist ja auch durchaus möglich, dass der Kerl einfach irgendeinen Mist hingeschrieben hat.«
»Das Buch Prediger ist kein Mist«, gab Dalmate knapp zurück.
»Gehen Sie nicht gleich an die Decke. Hier handelt es nicht um religiöse Fragen, sondern darum, wie ein Mörder tickt.«
Mistrals Stimme klang scharf.
Mit einer diskreten Kopfbewegung forderte Calderone Dalmate auf, das Büro zu verlassen.
»Seien Sie ihm nicht böse. Ich bin sicher, er bereut längst, dass er über seinen Aufenthalt im Priesterseminar gesprochen hat. Wahrscheinlich wartet er nur darauf, von den anderen ziemlich unsanft auf die Schippe genommen zu werden. Ich denke aber, dass ich vorher einschreite.«
»Natürlich haben Sie recht, Vincent. Ich werde bei Gelegenheit einmal unter vier Augen mit ihm reden.«
Gegen 13.00 Uhr lehnte Mistral Calderones Vorschlag ab, gemeinsam essen zu gehen. Er hatte keinen Hunger; hingegen war er hundemüde. Mit den Füßen auf dem Schreibtisch schlief er sofort ein. Der Ventilator lief auf Höchstgeschwindigkeit und quirlte heiße Luft durch den Raum. Knapp vierzig Minuten später läutete das Telefon. Mistral schreckte aus seinem Tiefschlaf auf und brauchte einige Sekunden, ehe er sich zurechtfand.
»Ich wollte nur wissen, wie es dir geht. Oder störe ich?«, erkundigte sich Clara.
»Abgesehen davon, dass du mich geweckt hast, geht es mir ausgezeichnet«, antwortete Mistral. Er hatte die Unruhe in ihrer Stimme erkannt und flüchtete sich in eine gewisse Launigkeit. »Seit ich offenbar meinen Biorhythmus verändert habe, schlafe ich im Büro und bin nachts in Höchstform«, scherzte er.
»Ich weiß, dass du diese Nacht nicht geschlafen hast«, gab sie zurück. »Eigentlich wollte ich bis heute Abend warten, um mit dir zu reden. Aber es beunruhigt mich. Wo liegt dein Problem?«
»Es gibt kein Problem, ganz ehrlich. Ich weiß auch nicht, warum ich nicht schlafen kann.«
»Ludo, ich kenne dich, und ich kann mir denken, warum du nicht schläfst. Ich weiß auch, dass du nicht darüber reden möchtest, habe ich recht? Schließ dich nicht in deine Angst ein. Ich bin doch bei dir.«
Mistrals Mobiltelefon begann zu läuten. So ein Glück , dachte er.
»Clara, mein Handy klingelt«, sagte er. »Ich verspreche dir, wir reden heute Abend weiter.«
»Keine Sorge, ich bleibe am Ball«, erklärte sie mit sanfter, aber fester Stimme.
Mistral warf einen Blick auf das Display des Handys und stellte fest, dass ihm die Nummer irgendwie
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