Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
und der Sonnenbrille wie ein sizilianischer Mafiaboss aus dem Kino aus.
Mistral verkniff sich die Frage, ob seine Frau die Urheberin dieses zufälligen Mittagessens war. Er fühlte sich ausgelaugt und müde und wollte das Gespräch nicht mit einer Frage beginnen, die gleich eine gewisse Distanz zwischen ihn und dem von ihm geschätzten Arzt gebracht hätte. So plauderten sie entspannt über alltägliche Dinge.
Ganz allmählich begann Thévenot, von sich selbst zu sprechen. Schweigend und nachdenklich hörte Mistral zu. Der Arzt vertraute ihm an, wie sehr er manchmal unter den Problemen seiner Patienten litt, die er nicht zu lösen vermochte.
Anschließend war Mistral an der Reihe, von seinen Fehlschlägen und ungelösten Fällen zu berichten.
Der Arzt hatte den Stein ins Rollen gebracht und ließ Mistral erzählen. Erst ganz zum Schluss stellte er ihm eine Frage.
»Als wir vorhin telefoniert haben, da sprachen Sie von einer kniffligen Mordserie. Ist es etwas Schlimmes?«
»Drei Morde an jungen Frauen, jeweils in ihren Wohnungen. Sie wurden misshandelt, erdrosselt und vergewaltigt. Anschließend steckte der Mörder ihnen Spiegelscherben ins Gesicht und legte ein Tuch darüber. Furchtbar!«
»Kann man wohl sagen. Schon irgendwelche Spuren?«
»Absolut nichts.«
»Wie fühlen Sie sich angesichts eines solchen Dilemmas?«
»Nicht gerade toll. Ich habe meine Arbeit eigentlich erst Anfang August wieder richtig aufgenommen. Und dann geht es gleich in die Vollen! Mir blieb keine Zeit, mich wieder einzugewöhnen.«
»Aber soweit ich mich erinnere, stehen Ihnen ein paar gute Teams zur Verfügung. Es ist doch sicher hilfreich, wenn die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilt ist.«
»Natürlich. Den einsamen Sheriff gibt es bei uns längst nicht mehr. Trotzdem fällt es mir nicht leicht, ohne Eingewöhnungszeit in einen so komplizierten Fall einzusteigen, nachdem ich bei der letzten Sache beinahe draufgegangen wäre. Das, was da vor ein paar Monaten passiert ist, zieht mich immer wieder nach unten. Anscheinend gehen unsere lieben Mitbürger davon aus, dass wir einen Fall nach dem anderen lösen, ohne dazwischen einmal Luft zu holen – ungefähr so wie in den Krimiserien im Fernsehen. Leider sieht die Wirklichkeit ganz und gar nicht so aus.«
»Mit anderen Worten: Sie haben keine Zeit, den Stress abzubauen.«
»Absolut nicht. Und wenn wir uns einen Fall nach dem anderen vornehmen, heißt das noch lange nicht, dass wir alles, was vorher passiert ist, vergessen. Wenn man mit einem richtig kniffligen Fall beschäftigt war, müsste man anschließend darüber reden. Aber so, wie es jetzt läuft, kommt man nicht dazu.«
»Aber auf irgendeine Weise müssen Sie darüber hinwegkommen, weil Sie es sonst nicht ertragen können.«
»Leichter gesagt als getan. Jahre später werden die Fälle oft wieder hervorgekramt. Dann werden wir vor das Schwurgericht geladen, sitzen dem Mörder gegenüber und müssen alles noch einmal von vorn aufrollen. Und dann erklären einem die Verteidiger, man hätte diese oder jene Vorschrift nicht erfüllt oder das Geständnis erst nach sechsunddreißigstündigem Dauerverhör aus dem Verdächtigen herausgepresst. Natürlich ist das ihr Job, aber sie stellen unsere berufliche Kompetenz infrage. Sie sehen also, dass wir das, was uns beschäftigt, nicht so leicht hinter uns lassen können.«
»Allerdings. Da häuft sich ja wirklich einiges an.«
Der Kriminalbeamte und der Psychiater verfielen in ein nachdenkliches Schweigen. Thévenot füllte ihre beiden Gläser mit kühlem Rosé.
»Warum stehen Sie morgens auf, Ludovic?«
Mistral hob die Augenbrauen. Ihn wunderte nicht nur die Frage, sondern er stellte auch fest, dass Thévenot ihn zum ersten Mal mit dem Vornamen angesprochen hatte, was dem Gespräch sofort eine intimere Note verlieh.
»Ich glaube, Sie kennen die Antwort«, bemerkte er spitz. »Weil ich nicht schlafe. Das sage ich Ihnen aber nicht in Ihrer Eigenschaft als Arzt.«
»Aber nein, meine Frage war rein freundschaftlich gemeint. Die Antwort allerdings hatte ich nicht erwartet. Ich dachte eher an das Warum in Bezug auf Ihre Arbeit.«
Mistral blickte dem Psychiater unverwandt in die Augen. Thévenot lächelte entspannt und trank einen Schluck Wein.
»Ich liebe meine Arbeit«, antwortete Mistral. Er hatte keine Lust, sich mit dieser Frage zu beschäftigen; also speiste er den Arzt mit knappen Sätzen ab und gab ihm so zu verstehen, dass er gerne das Thema wechseln wollte. »Ich
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