Die dunkle Villa: Ein Fall für Alexander Gerlach (Alexander Gerlach-Reihe) (German Edition)
Polizei?«
Offenbar verfügte die Dame trotz ihres Alters über ein vorzügliches Gehör.
»Aber nein«, sagte ich mit dem strahlendsten Lächeln, das ich am Freitagabend zustandebrachte, und wiederholte mein Sprüchlein: »Es geht um einen Todesfall, der in sich in diesem Haus vor fast dreißig Jahren ereignet hat.«
Sie trug eine seegrünfarbene Strickjacke mit Schalkragen zu einem scheußlich bunt geblümten Kleid. Und an den Füßen Wanderstiefel mit dicken Sohlen und grobem Profil.
»Das wundert mich nicht.«
»Sie haben damals schon hier gewohnt?«
»Ich wohne hier, seit das Haus steht.«
»Vielleicht wäre es besser, das drinnen zu besprechen?«, raunte ich mit Blick nach unten. Das Argument überzeugte sofort.
»Kommen Sie nur«, wisperte sie. »Er muss ja wirklich nicht alles mitkriegen.«
Zwei Minuten später saß ich in einem gut geheizten, etwas plüschig eingerichteten Wohnzimmer vor einer Tasse grünem Tee, der nach Heu schmeckte.
»Seit wann genau wohnen Sie hier?«, fragte ich Frau Tröndle.
»Schon immer, sagte ich doch schon. Zur Welt gekommen bin ich zwei Straßen weiter. 1948.« Offenbar war sie jünger, als sie aussah. »Wie wir hier eingezogen sind, war das Haus nagelneu und ich gerade mal acht Jahre alt. Und wenn der Herr im Erdgeschoss nicht irgendwas dreht, werde ich auch hier sterben. Aber wer weiß, was er als Nächstes ausheckt? Vielleicht findet man mich morgen irgendwo im Straßengraben mit durchgeschnittener Kehle? Oder zerhackt im Keller verbuddelt?«
»So schlimm?«
»Der da unten ist kein Mensch, auch wenn er immer so freundlich tut. Der Ikarus ist der, der Pförtner der Unterwelt! Der Gott des Gemetzels!«
Nach meiner Erinnerung war Ikarus zwar eher das Gegenteil des Türstehers der Hölle gewesen, aber ich wollte nicht vom Thema abkommen.
»Erinnern Sie sich noch an das Ehepaar Hergarden?«
»Selbstverständlich.« Sie nickte heftig, betrachtete mich wohlwollend mit lebhaften kleinen Augen. »Sehr nette Leute. Aber hier wohnen eigentlich nur nette Leute. Außer ihm eben … ein Schnäpschen vielleicht zum Tee?«
Ich lehnte dankend ab. Sie erhob sich schnaufend, holte aus einer Vitrine hinter der Tür ein Schnapsglas und eine große Flasche ohne Etikett, schenkte sich eine glasklare Flüssigkeit ein und leerte das Gläschen in einem Zug. Erst dann setzte sie sich wieder und sah mich neugierig an.
»Erinnern Sie sich noch an den Tag, als man Frau Hergarden tot in ihrer Wohnung gefunden hat?«
»Schreckliche Geschichte«, seufzte sie bewegt. »Eine so nette, ruhige Frau.«
Von unten erklang Klaviermusik. Gut gespielte Klaviermusik. Schubert, wenn ich nicht irrte.
»Hören Sie das?«, fragte Frau Tröndle mit vor Verzweiflung halb erstickter Stimme. »So geht das jeden Tag, den der Herrgott werden lässt! Pling-pling-pling. Je-den Tag! Er will mich in den Wahnsinn treiben mit seinem Geklimper. Und er wird es schaffen, ich weiß es. Soll ich Ihnen sagen, was ich jeden Tag an Tabletten …?«
Nun verstand ich, wozu sie in der Wohnung Wanderstiefel trug. Sie versuchte nämlich, den begabten Pianisten durch kräftiges Trampeln aus dem Takt zu bringen. Das Klavier wurde lauter. Das Getrampel auch.
»Hatten Sie guten Kontakt mit Ihren damaligen Nachbarn?«, fragte ich mit lauter Stimme. »Wo genau haben sie denn gewohnt?«
Sie wies in Richtung Treppenhaus. »Gegenüber. Sehr nette Leute. Ich habe mit allen im Haus guten Kontakt. Ich habe mit niemandem Probleme. Mit niemandem. Außer mit …«
»Damals muss auch eine Frau Holland im Haus gewohnt haben.«
»Warten Sie … Holland, sagen Sie? Ja, natürlich! Das war so eine hübsche Blondine, nicht wahr? Sehr feine Frau. Immer hilfsbereit und immer für ein Schwätzchen zu haben. Damals hat man natürlich noch mehr Zeit gehabt. Damals musste noch nicht alles mit Düsenjägergeschwindigkeit gehen wie heute.«
Ich gab ihr seufzend recht.
»Noch ein Tässchen Tee?«
»Das wäre schön, danke.«
»Und immer noch kein Schnäpschen?«
»Wirklich nicht. Danke.«
Sie schenkte umsichtig nach. Füllte auch ihre Blümchentasse wieder auf. Stellte die schon etwas angestoßene Kanne im Meißener Stil auf das reich verschnörkelte Messingstövchen zurück. Schenkte sich auch ihr Schnapsglas noch einmal voll.
»Sie wissen nicht zufällig, was aus Frau Holland geworden ist?«
Die alte Dame nippte adrett an ihrem Tee und sah mir dabei immer wieder und vor Neugierde sprühend in die Augen. Und trampelte unentwegt weiter.
Weitere Kostenlose Bücher