Die Eiserne See - Brook, M: Eiserne See
hob die Faust zur Schläfe, als ringe er um Kontrolle, und senkte sie dann wieder. »Das ist der Grund, weshalb du mit mir nicht weitermachen willst?«
»Ja.«
»Dann hast du also Angst vor Leuten, die dir gar nichts bedeuten. Du sorgst dich um das, was die Leute denken, selbst wenn sie sich wegen dieses Unsinns von dir abwenden. Du rennst aus Angst vor Leuten davon, deren Dummheit es nicht wert ist, dass du deine Zeit darauf verschwendest.« Sein Gesicht nahm einen strengen, verschlossenen Ausdruck an. »Du bist ein Feigling.«
Feigling . Das Wort traf sie, als hätte man ihr ins Gesicht gespuckt. Sie starrte ihn an, zornig und verletzt. »Du erzählst auch nicht jedem, dass du mit Naniten geboren wurdest.«
»Weil es niemanden etwas angeht! Und ich habe keine Angst vor ihrer Reaktion.«
»Und was geht es sie an, dass die Horde meine Mutter vergewaltigt hat? Doch jeder kann den Beweis dafür sehen. Jeder hat eine Meinung darüber und verurteilt uns dafür. Im Gegensatz zu dir habe ich nicht das Privileg zu verstecken, dass ich etwas bin, was alle hassen und fürchten. Und deshalb wird man mein ganzes Leben lang diesen Unsinn über mich erzählen. Und wenn ich mit dir zusammen bin, dann wird es jeden Tag Thema sein, für praktisch jeden in England.«
»Ich werde nicht zulassen … «
»Das kannst du gar nicht! Du kannst nicht kontrollieren, was sie denken !« Sie schrie beinahe. Schwer atmend kämpfte sie gegen Wut, Schmerz und Frustration an. Sie versuchte es noch einmal, obwohl sie sich noch nicht wieder gefasst hatte. Sie versuchte, es ihm so zu sagen, dass er verstehen würde. »Wenn ich mit dir zusammenbleibe, Euer Hoheit, hast du deinen Besitz. Aber ich werde es sein, die dafür bezahlen wird!«
Doch sie konnte heute Abend nicht mehr bezahlen. Während er sie anstarrte, drehte Mina ihm den Rücken zu und verließ die Kajüte – und sie schaffte es zur Treppe nach unten, bevor sie zu weinen anfing.
Rhys platzte in Scarsdales Kajüte und warf dem Bounder das Flugblatt ins Gesicht. »Was ist das?«, verlangte er zu wissen.
Scarsdale in seiner Koje versuchte sich mühsam aufzusetzen. Als er das Flugblatt gesehen hatte, schloss er resigniert und entsetzt die Augen. »Woher hast du das?«
»Von Mina. Es wurde an dem Morgen verteilt, als wir London verlassen haben.«
Er fasste sich an den Kopf. »Du liebe Zeit, sie sind ja schneller als die Nachrichtenblätter.«
»Du hast die Nachrichtenblätter gelesen?«
»Alle haben das.«
Alle außer Rhys. Herrgott . Die ganzen Wochen über hatten alle dieses widerwärtige Bild von Mina in ihren Köpfen herumgetragen, und er hatte es nicht gewusst. »Wie kann ich das unterbinden?«
Mit besorgtem Gesicht schüttelte Scarsdale den Kopf. »Wie bitte?«
»Wen muss ich bestechen? Wen muss ich umbringen?«
Der Bounder starrte ihn an. »Jeden Bugger in England. Du hast die Endeavour wohl etwas voreilig zerstört.«
Herrgott . Rhys fuhr sich mit einer wilden Bewegung durchs Haar und schlug mit den Handflächen gegen das Schott. Nichts half.
»Kapitän, du könntest eine bärtige Dame aus einem Zirkuszelt heiraten. Du könntest eine Frau mit Warzen im Gesicht aus einem Bordell holen. Liberé, Lusitanierin, sogar mich. Und in den Nachrichtenblättern würden wir wunderschön aussehen. Aber nicht die Inspektorin. Sie sehen in ihr nur die Horde und eine liederliche Hure. Verdammt, sie werden dir applaudieren, wenn du sie rannimmst, weil das bedeutet, dass du es ihnen noch immer gibst. Aber wenn sie ein Niemand ist … «
»Die Tochter eines Grafen ist kein Niemand.«
Mina war das nicht. Nicht einmal, wenn sie in einem Hort geboren wäre. Sie war alles.
»Sie ist es aber beinahe. Die Gesellschaft in London ist nicht wie die in Manhattan City. Wenn sie ein Niemand ist, kommt sie über die Runden. Und schon allein mit dem fertigzuwerden, was ihr tagtäglich widerfährt, ist gewiss mehr, als irgendjemand ertragen sollte.«
Tagtäglich . Er hatte es gewusst. Und trotzdem hatte er sie einen Feigling genannt.
Er konnte nicht antworten. Er konnte nicht denken.
Aber wenn ihm nicht bald etwas einfiel, würde er sie verlieren.
Scarsdale blickte erneut auf das Flugblatt und seufzte. »Aber das hier … Das ist nicht von Leuten, mit denen sie zu tun hat. Die könnte sie zumindest beeinflussen. Sie lernen sie entweder kennen oder sie verschwinden wieder und vergessen sie. Aber die Leute, denen sie nicht persönlich begegnet, kann sie nicht ändern – und gerade diese Leute
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