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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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lange tot. 450   Jahre oder dergleichen. Wer weiß, was es da unten wirklich gibt. Ich glaube: nichts als Wasser.»
    «Nun ja», der andere, ein hagerer Mann von blasser Gesichtsfarbe, die durch die gepuderte Perücke und den tiefschwarzen Rock mit silberbestickten Stulpen an den Ärmeln noch blasser wirkte, war anderer Meinung. «Irgendetwas Schweres muss es dort geben. Seht Euch den Globus an, wenn dort im Süden kein großer Kontinent wäre, würde das Gleichgewicht der Erde nicht stimmen, wir würden durch das Universum trudeln, sozusagen, anstatt im ordentlichen Gleichmaß um die Sonne. Aber das tun wir nicht, jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Außerdem», er lehnte sich mit wichtiger Miene zurück, «als Mann der Jurisprudenz sage ich: Wir brauchen dringend so einen Kontinent. Er soll ja menschenleer sein, auch keine Könige oder impertinente Rothäute, er gehört einfach keinem. Genau das richtige Land für unsere Delinquenten. Diesen Abschaum an den Galgen zu bringen ist Verschwendung von Arbeitskraft, und unsere Zucht- und Arbeitshäuser sind ständig überfüllt und kommen viel zu teuer.»
    «Aber die amerikanischen Kolonien   …»
    «Sind keine gute Lösung.» Er hob streng den dünnen Finger. «Die Deportierten machen nur Unruhe, Manns- wie Weibspersonen, allesamt aufsässiges Volk. Davon haben wir dort schon genug, sogar in den Ratsversammlungen, und für die Arbeit sind die afrikanischen Neger viel besser geeignet.»
    «Richtig», sagte sein Gegenüber und rückte ein wenigzur Seite, um einem Neuankömmling Platz zu machen, «Ochsen und Afrikaner, ja. Leider ist es fraglich, ob Cook überhaupt zurückkommt, wenn er auch eine dieser neuen Uhren von Harrison mitgenommen hat, nach denen man angeblich die Längengrade und damit die genaue Position ausrechnen kann. Bei jedem Wetter und ganz ohne Sternenkalender, wirklich erstaunlich. Aber keiner seiner Matrosen soll über dreißig sein, viel zu junges Volk, viel zu wenig Erfahrung für so eine Reise ins Unbekannte. Egal, wie groß die Strapazen sind, Muskeln sind nicht alles, und wer weiß, was sie dort erwartet.»
    Das war ein Stichwort für den neuen Gesprächpartner, einen äußerst beleibten Porzellanmanufakteur mit literarischen Ambitionen, der sich bei der Seefahrt weniger für Längengrade und jugendliche Muskeln interessierte als für abenteuerliche Berichte, die unverständige Menschen als Seemannsgarn abtaten. Er begann umgehend, von den Riesen zu berichten, die Admiral Byron, wegen seines einzigartigen Talents, in schwere Stürme und ähnliche Kalamitäten zu geraten, allgemein ‹Schlechtwetterjack› genannt, vor einigen Jahren im so fernen wie unwirtlichen Patagonien entdeckt hatte.
    «Grandiose Wesen! Allesamt zehn Fuß groß und laufen schneller als Pferde. Hufe», versicherte er, «haben sie wohl keine, aber ihre Fußsohlen messen zwanzig Inches.»
    Es sei zu schade, dass der Admiral kein einziges Exemplar mitgebracht habe, sie seien doch exzellentes Zuchtmaterial. Zum Beispiel für die schnellere Beförderung der Post und erst recht für die Treidelarbeit auf den Kanälen. Im Übrigen plane er, ein Teeservice mit ihren Abbildungen bemalen zu lassen, die Damen würden sich darum reißen.
    Während Wagner noch überlegte, wo er den Namen Byron heute oder in den letzten Tagen schon einmal gehört hatte, wurde endlich der Platz vor dem Stehpult frei. Er leerte den letzten Tropfen seines Ports und kam gerade noch zwei Männern zuvor, die wie er die Gelegenheit nutzen wollten, in dem dicken Nachrichtenbuch zu blättern. Es kostete ihn Mühe, die nicht immer akkuraten Schriften zu entziffern.
    Außer den Nachrichten über den Verbleib oder Standort von Schiffen gab es Hinweise auf Unruhen in Ostindien, besonders günstige Preise von Rohzucker auf einer ihm völlig unbekannten Insel im Karibischen Meer, zahlreiche Namen von Häfen, Inseln und entlegenen Ozeanen und Gestaden, wo irgendjemand irgendein Schiff, einen Konvoi oder auch Kaperer zuletzt gesehen oder von ihnen gehört hatte. Die
Bristol Belle
wurde nirgends erwähnt. Auch nicht die
Queen of Greenwich
, das Schiff, mit dem die Herrmanns’ erwartet wurden. Zum ersten Mal verstand er Mrs.   Tottles Sorge.
    Das musste noch kein Drama bedeuten, die Einträge waren zufällig und konnten auch nie vollständig sein. Aber immerhin, gelogen wurde dabei nie, so ließ sich Wagner von einem jungen Kontorschreiber erklären, der vor ihm in dem Buch geblättert hatte und wie er um den Verbleib

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