Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
vernehmen. Aber die Ratten erschreckten sie keineswegs so sehr wie die junge Frau. Das waren auch nur hungrige Kreaturen. Wann immer sich eine von ihnen in ihren Verschlag wagte, schlug sie mit ihrem Holzschuh nach ihr, bis sie an ihren Platz zurückkehrte. Alles hatte seinen Platz. Der Verschlag war der ihre, und sie duldete dort keine Eindringlinge. Und der angestammte Platz der Ratten war im Frachtraum zwischen den hölzernen Fässern, die mit den feinen Waren für jene Reichen gefüllt waren, die nicht bereit waren, die Steuern des Königs zu bezahlen. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie sie manchmal sogar nagen hören. Die mit Eisenbändern versehenen Fässer hielten ihren Zähnen jedoch stand. Und sie mussten auch sehr lange nagen, um die aus Leinwand genähten Säcke durchzubeißen. Die meisten Ratten mussten sich mit dem zufriedengeben, was danebenfiel.
Das war der Gang der Dinge.
Und dennoch machte das Geräusch sie traurig. Es erinnerte sie an Jemmy, ihren Bruder. Er fing immer an den Londoner Docks Ratten und brachte sie in einem selbst gebauten Käfig nach Hause. Von dem Geld, das er damit verdiente, dass er sie an den obersten Rattenfänger des Bürgermeisters verkaufte, konnten sie Brot kaufen. Wenn es kein Brot gab, aßen sie eben die Ratten.
Jemmy hatte immer auf sie aufgepasst. Er hielt sie stets an der Hand, wenn sie durch die Straßen gingen. Das erste Mal, als sie in das ruhige Wasser geblickt hatte, hatte sie die Ankündigung seines Todes gesehen. Sie war damals nur ein kleines Mädchen gewesen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, als sie nach einem Regenguss zufällig in eine Pfütze geblickt und die Schlinge des Henkers gesehen hatte. Eine Woche später war Jemmy zusammen mit zwei anderen Taschendieben aufgehängt worden. Ella hatte zwei Tage lang geweint. Sie hatte die Erfahrung machen müssen, dass die Bilder im Wasser niemals logen. Endor fragte sich, wie lange es noch dauerte, bis die junge Frau oder der Mann – sie konnte nicht sagen, wer von beiden, denn sie hatte nur den Brandpfahl gesehen – vor Gericht stehen würde.
Kate rümpfte die Nase, als die Frau die Tür zu den Räumen im oberen Stockwerk öffnete: ein kleines Wohnzimmer, ein Abtritt und ein Schlafzimmer. Alles war von diesem wundervollen Licht durchflutet, das über der gesamten Stadt lag.
»Es riecht nach Terpentin«, sagte sie zu John. »Aber ich denke, wir werden uns daran gewöhnen. Jedenfalls ist es sauber, und das Bett ist auch größer, als wir es gewöhnt sind.«
»Das ist das Einzige, was gegen dieses Zimmer spricht.« Er grinste. »Die Vorstellung, dass so viel Platz zwischen uns sein könnte, gefällt mir ganz und gar nicht.«
»Psst«, sagte Kate und merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, als sie die streng wirkende Frau ansah, die ihnen die Räumlichkeiten zeigte.
Die Frau war die Schwester des Mannes, dem dieses Atelier gehört hatte. Von Mistress Poyntz, der Wirtin des Hauses der englischen Kaufleute, in dem sie die letzte Nacht verbracht hatten, hatten sie heute Morgen erfahren, dass er vor nicht einmal einem Monat in diesem Zimmer gestorben war.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich in einem Atelier wohnen möchte, in dem erst vor kurzem jemand gestorben ist …«, hatte Kate einzuwenden versucht, aber Mistress Poyntz hatte sie umgehend beruhigt. »Ich habe die Zimmer selbst gesehen und bin mir sicher, dass Ihr Euch dort wohl fühlen werdet, meine Liebe. Sie sind sauber, geräumig und hell – Catherines Bruder war ein sehr bekannter Künstler –, und Catherine hat mir gesagt, dass sie Euch sogar noch ein Federbett geben wird. Ihr müsst dort auch nur vorübergehend wohnen, nur so lange, bis jemand aus dem Haus der englischen Kaufleute auszieht. Ihr müsst sicher nicht lange warten, denn die englischen Kaufleute bleiben nie lange. Aber Ihr könnt nicht wie letzte Nacht weiter auf Strohsäcken im Empfangszimmer schlafen.«
Kate sah sich um. Vielleicht gelang es ihr ja, den Gedanken, dass jemand erst vor kurzem hier gestorben war, aus ihrem Kopf zu verbannen. Es war wirklich ein schönes Zimmer, viel schöner als ihr Zimmer über dem Buchgeschäft, sogar schöner als das Zimmer, das ihr die Walshs zur Verfügung gestellt hatten.
»Wir werden das Bett umstellen. Weg vom Fenster. Direkt neben die Staffelei mit der Skizze dieser hässlichen Frau«, sagte John.
»John! Die Wirtin wird dich noch hören. Wir können es uns nicht leisten, sie zu beleidigen«, stieß sie zwischen ihren Zähnen
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