Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
das ist Eure letzte Chance.«
Noch lange nachdem Cromwell gegangen war, saß John in der zunehmenden Dunkelheit und dachte nach. Der Rabe kam noch zweimal und ließ sich ein jedes Mal kurz auf dem hohen Fensterflügel nieder, bevor er mit heiserem Rufen wieder davonflog. Wenn es ein Gedicht wäre, dachte John, dann wäre der große schwarze Vogel ein Bote – vielleicht sogar der Todesbote. Doch John kam sich keineswegs wie der Protagonist eines Heldenepos vor, und er wusste auch nicht, welche Botschaft der Rabe für ihn hatte. Er fühlte sich, wie sich jeder fühlen würde, allein und voller Angst. Er sehnte sich nach Kate, würde sie gern um Rat fragen. Würde sie ihm sagen, er solle für seine Überzeugungen eintreten, oder würde sie ihm raten zu fliehen?
Er nahm Tyndales zerknitterten Brief und las ihn noch einmal. »Ich würde der Ehre Gottes nicht im Weg stehen«, zitierte Tyndale sie wörtlich. Er war in solchen Dingen immer sehr genau. Die Bedeutung war klar und dennoch … wie konnte er sie einfach so verlassen?
Als es dunkel geworden war, zündete er die Kerze an, nahm sein Schreibzeug aber nicht zur Hand. Was hätte es für einen Sinn, seine Verteidigung schriftlich niederzulegen? All seine Argumente waren bereits veröffentlicht. Er konnte nur mit Luther sagen: »Hier stehe ich.« Aber das musste er tun. Wenn er es nicht tat, würden ihn seine Feinde als Feigling brandmarken.
Er hielt die Handfläche über die Kerzenflamme, ließ sie dort, bis ihm der Schmerz die Tränen in die Augen trieb. Vielleicht würde sich trotz allem, was Cromwell gesagt hatte, noch eine weitere Möglichkeit zur Flucht ergeben, nachdem er sich jenen, die nicht nur seine Feinde, sondern auch die Feinde von Gottes Wort waren, gestellt hatte. Eine Möglichkeit, die sowohl seine Ehre wie auch sein Leben rettete. Er schloss die Augen und betete um Mut.
Kate sah die Siren’s Song, als sie in den Hafen einfuhr. Sie war jetzt schon seit Wochen täglich zum Hafen hinuntergegangen, um nach dem Schiff Ausschau zu halten, in der Hoffnung, dass sie Nachricht von John bekam. Als die vertraute Silhouette so nahe war, dass sie, ihre Hand vor die Augen haltend, den Namen am Bug lesen konnte, begann ihr Herz wie wild zu rasen. Einen Moment lang gestattete sie sich sogar zu glauben, John könnte an Bord sein. In seinem letzten Brief vor einem Monat hatte er der Hoffnung Ausdruck verliehen, man werde ihn nach der Krönung der neuen Königin freilassen. Es war ein warmer Junitag, und sie lief, von diesem Gedanken beflügelt, aufgeregt zum Kai.
Der Kapitän sah sie sofort. Er bedeutete ihr mit einem Wink, dass sie an Bord kommen solle, und schickte einen seiner Männer, um ihr zu helfen. Sie suchte das Deck nach Johns vertrauter Gestalt ab, aber als sie schließlich den Kapitän ansah, sagte ihr ein einziger Blick mehr als tausend Worte – denn auf seinem Gesicht lag nicht einmal der Ansatz eines zynischen Lächelns, mit dem er sie sonst begrüßte. John war nicht an Bord.
»Wann habt Ihr ihn zuletzt gesehen?«, fragte sie, als sie zusammen in der Kapitänskajüte saßen.
Endor stellte einen Teller mit den süßen Brötchen, die Kate so gern mochte, vor sie auf den Tisch. Von dem Geruch wurde ihr jedoch fast übel, aber es lag nicht an dem sanft schaukelnden Schiff. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu – etwas war anders an Tom Lassers Verhalten, an der Art, wie er versuchte, ihrem Blick auszuweichen –, und sie musste schnell und gepresst atmen.
»Das ist schon ein paar Wochen her. Ich war für die Hanse unterwegs. Als ich letzte Woche noch einmal versuchte, ihn zu besuchen, sagte man mir, dass er keine Besucher mehr empfangen dürfe.«
»Aber er ist noch … am Leben?« Sie brachte die Worte kaum heraus.
Er schaute weg. Lieber Gott … warum sah er sie nicht an? »Er ist …«
»Ja, er ist noch am Leben.« Er legte seine Hand auf ihre. Sie starrte die venezianische Spitze an seinem Handgelenk an, die ihre zitternden Finger beinahe verdeckte. Er zog seine Hand zurück. »Aber es sieht nicht gut für ihn aus.«
Sie stützte ihr Kinn in die Hand, damit er nicht sah, wie es bebte. Als sie zu sprechen anfing, war es mehr eine Feststellung als eine Frage. »Sie werden ihm wegen Ketzerei den Prozess machen, nicht wahr?«
»Ja. Aber Ihr dürft die Hoffnung nicht aufgeben, Kate. Der Erzbischof hat zugesagt, John nicht verfolgen zu lassen, falls er auf dem Weg zu seinem Prozess flieht.«
»Hat Thomas More das auch zugesagt? Und der Bischof
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