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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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ruhig. Sie starrten unentwegt auf die Wilden
und blieben dabei stumm. Andere aber gingen viel zu nah hin, gestikulierten
herum, und zwar bei weitem zu schnell. Vielleicht wollten sie begütigen,
vielleicht auch nur zeigen, daß ihnen zu der Situation etwas einfiel. Das
änderte aber nichts an ihrer Zudringlichkeit. Sie wollten verblüffen, so wie
alle John verblüffen wollten, wenn sie ihn noch nicht genug kannten. Besonders
unangenehm waren einige, die ihre Köpfe zusammensteckten und über die Wilden
lachten.
    Â»Mehr Respekt, meine Herren!« sagte Matthew mit gefährlicher Ruhe,
»keine Witze mehr, auch keine guten, Mr. Taylor!«
    Plötzlich wußte John, wie es war: alle glaubten, die Wilden seien
noch zu wenig darüber belehrt, wen sie vor sich hätten. Die Weißen fühlten sich
noch nicht ausreichend respektiert. Sie warteten darauf, daß dieser Fehler korrigiert
würde.
    Als sich die Engländer wieder in die Boote setzten, hatte John zu
viel mit sich selbst zu tun, um weiter genau beobachten zu können. Da hörte er
Matthews Stimme scharf sagen: »Ich warte nicht mehr lange, Mr. Lacy!« Es ging
um ein Gewehr, welches Denis wohl aus purem Übermut hatte abfeuern wollen.
    Es fiel John auf, daß Matthew sich ruhiger bewegte als sonst,
schleppender als irgendein anderer auf dem Landeplatz. Auch bei den
Australischen gab es einen, der sich so verhielt. Er saß ruhig da, lachte wenig
und nahm alles wahr – seine Augäpfel waren in ständiger Bewegung.
    Da fiel ein Schuß. Die braunen Männer verstummten. Getroffen war
niemand. Einer der Marinesoldaten war an den Abzug seiner Waffe geraten.
    Aber warum passierte das ausgerechnet beim Abschied, und warum einem
Mann, der am Gewehr vorzüglich ausgebildet war?
    Nach wenigen Tagen trafen sie in einem weiteren Küstenabschnitt
einen ganzen Stamm, also auch Frauen und Kinder, die aber bald in Sicherheit
gebracht wurden. John konnte die Australischen gut auseinanderhalten, denn er
sah lang genug hin. Nicht einmal Dr. Brown konnte das so gut, obwohl er doch
Forscher war und die Wilden von Kopf bis Zehen vermaß. Er schrieb in ein Heft:
»King-George-Sund und Umgebung. A: Männer. Durchschnittswerte von 20 Exemplaren. Länge: 5 Fuß 7 Zoll. Oberschenkel: 1 Fuß 5 Zoll. Schienbein: 1 Fuß
4 Zoll.«
    Â»Was machen wir damit, kriegen die jetzt Kleider?« fragte Sherard.
»Nein, das ist Ethnographie«, antwortete der Forscher. John hatte zu notieren,
wie die gemessenen Körperteile hießen: Kaat – der Kopf, Kobul – der Bauch, Maat – das Bein, Waleka – das Gesäß, Bbeb – die Brustwarze. Es war ein Tauschhandel:
Nägel und Ringe gegen Maße, Gewichte und Vokabeln.
    Als Matthew die Worte für Feuer und Arm wußte und damit einen
australischen Namen für Gewehr, ließ er am Ufer die Trommel schlagen, so daß
Weiße wie Eingeborene sich neugierig versammelten. Er hob ein Gewehr hoch in
die Luft und rief auf australisch einige Male: »Feuer-Arm.« Dann schoß er auf
ein Ösfaß, das er auf einen Stein hatte legen lassen, und traf es so gut, daß
es ins Wasser gefegt wurde. Er ließ wieder laden und das Ösfaß auf den alten
Platz legen. Jetzt sollte John schießen. John begriff nicht sofort – es lag
daran, daß er anderer Meinung war und nicht wollte. Zum ersten Mal seit langer
Zeit tat er noch langsamer, als er war, aber es half nichts, er konnte Matthew
nicht widersprechen.
    Es war ein Ösfaß aus Blech, das viel Lärm machte, und John war der
Langsamste. Matthew wollte den Wilden zeigen, daß auch ein langsamer Engländer
mit dem Feuerarm jähe Veränderungen bewirken konnte. John hatte eine ruhige
Hand und verstand sich aufs Zielen. Er traf das Blech. Beifall bekam er nicht,
denn das hatte Matthew verboten. Es sollte wie eine ganz alltägliche Sache
wirken. Das Ergebnis war seltsam. Die Australischen lachten, vielleicht aus
Befremdung. Das Wort »Feuerarm« benutzten sie nie, sie hatten für das Gewehr
einen anderen Namen. Daß Vögel und Ösfässer umfielen, wenn sie getroffen waren,
hatten sie gesehen. Vielleicht wußten sie noch nicht, daß es mit Menschen
genauso war. Immerhin waren jetzt die Weißen der Ansicht, sie würden von den
Wilden in ihrer Überlegenheit anerkannt, und so hatten sie auch selbst wieder
mehr Respekt vor ihrem

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