Die Entführung der Musik
nur widerstrebend.
Was, wenn dieser verrückte Hinckel mächtig genug wurde, um auch aus Jon-Toms früherer Welt Klänge zu stehlen? Kein Rock mehr, kein Metal, kein Rap, kein Grunge. Kein Jazz oder Folk, keine klassische Musik, keine Country Music, keine ethnische Musik oder Weltmusik mehr. Nach der Erzählung der Bandmitglieder zu urteilen, ließe Hin- ckel nicht einmal ein Kinderlied übrig. Jon-Tom konnte sich nicht vorstellen, daß er in einer Welt ohne Musik würde leben wollen. In welcher Welt auch immer.
Über ihnen dröhnte der Donner. Es gab viel zu tun. In diesem Mo- ment erwischte ihn der Klang. Er krümmte sich. Auch der weniger empfindsame Mudge knirschte plötzlich mit den Zähnen. Es war das akustische Gegenstück des Gefühls, wenn man mit den Fingernägeln über eine Schreibtafel schabt oder wie wenn man mit dem Käsemesser Glas hobelt. Es war, als zöge ihm jemand eine Nagelfeile quer durch die Nerven.
Ihre Führer waren ebenfalls nicht immun. Splitz Zimmerman er- schauderte sichtlich, während Wolf Gathers die Augen zusammen kniff und die Hände auf die Ohren preßte. Nukeo Hill kam besser da- mit zurecht als die anderen, aber das war verständlich. Hill war ein Schlagzeuger.
Der gräßliche Lärm verebbte. Jon-Tom richtete sich auf und atmete tief durch. Der klingende Schauder hatte ihn wie ein stumpfes Messer durchfahren. Die Akkordwolke war in ein Dutzend getrennter Klang- wölkchen zerstoben und vereinigte sich erst jetzt wieder.
»Das erste Mal ist es am schlimmsten«, erklärte Zimmerman mit- fühlend.
Der Bassist hatte recht. Als sie das Klettern wieder aufnahmen, er- tönte der Klang von neuem. Doch nun konnte Jon-Tom die abscheuli- che Stimme besser ertragen. Die Gitarrenbegleitung, falls man es so nennen konnte, war so gräßlich, daß es klang, als schlage der Spieler Saiten aus Katzendarm, die noch nicht aus ihrem ursprünglichen Be- sitzer heraus getrennt waren.
Jon-Tom kletterte vorsichtig weiter und merkte dabei, wie ihm auf- grund dieser Stimme der Schweiß ausbrach. Sie war nicht einfach nur kratzig; sie schürfte auf, sie ätzte, sie gab einem den Wunsch ein, mit zeitweiliger Taubheit geschlagen zu sein. Lieber wäre Jon-Tom einem Chor völlig unmusikalischer Todesfeen ausgesetzt gewesen.
»Wonnnn't you be my Bayyyy-beee!« heulte es, als käme die Stimme direkt aus der Hölle. Nein, sagte sich Jon-Tom. Selbst der Hades konnte ein solches Pandämonium nicht ertragen. Verglichen mit die- ser Stimme, klang er selbst wie Caruso. Oder zumindest Daltrey.
Mudges Fell war gesträubt wie bei einem erschreckten Kater. »Zum Teufel, verdammt, bin ich froh, daß meine Ohren so klein sind! Der Klang is nicht von dieser Welt.«
»Hieronymus stammt, glaube ich, ursprünglich aus Stuyvesant Town«, informierte sie Gathers.
»Kaum zu glauben, daß ein solcher Unklang aus einer menschlichen Kehle kommen kann.« Jon-Tom schluckte mühsam.
»Kannst du dir vorstellen, was es heißt, mit so jemandem als Lead- sänger eine Aufnahme zu machen?« Gathers fuhr sich durch die lan- gen Locken. »Mir kommt es irgendwie wie das Gegenstück der mo- dernen elektronischen Geräte vor, mit denen man Nager abschreckt.«
Als der schauerliche Gesang wieder einsetzte, wurde er diesmal von unidentifizierbaren Stimmen und Instrumenten begleitet, die jedoch nur halb so furchtbar klangen wie der Leadsänger selbst. Nach dem, was Jon-Tom hören konnte, waren sie jedoch auch alleine schon ange- messen gräßlich. Es war schwierig, unter diesem dissonanten Sperr- feuer überhaupt Worte zu formen, doch Jon-Tom zwang sich, so kon- sequent wie möglich über das Durcheinandergekreisch hinwegzuhö- ren.
»Was ist mit dem Rest?« fragte er Gathers.
»Ich habe es dir gesagt. Hieronymus ist nicht allein.«
»Na gut«, knurrte Jon-Tom eigensinnig. »Es ist nur Musik.«
»Man muß ihn stoppen!« rief Zimmerman aus.
Die Mitglieder der Band begleiteten sie noch weitere hundert Fuß, dann mußte Gathers schließlich anhalten. Die letzten Minuten hatte er den Kopf hin und her geworfen, als hätte sich in seinem Ohr eine wü- tende Wespe eingenistet, und jetzt machte er ein verzweifeltes Ge- sicht.
»Wir können nicht weitergehen, Bannsänger. Du mußt uns verste- hen, wir mußten dieses Zeugs wochenlang jeden Tag hören.«
»Monate.« Inzwischen hielt sich sogar der phlegmatische Hill die Ohren zu.
»Äonen.« Zimmermans Augen tränten. »Hätte nie gedacht, ich müßte einmal etwas hören, gegen das Industrielärm
Weitere Kostenlose Bücher