Die Entmündigung (German Edition)
lieber Herr«, sagte sie und zeigte sich an der Tür des Arbeitszimmers. »Ich bin Frau Jeanrenaud, die Sie vorgeladen haben, nicht mehr und nicht weniger, als wenn sie eine Diebin wäre.« Diese vulgären Worte wurden mit einem vulgärem Ton gesprochen, der durch das Pfeifen des Asthmas regelmäßig unterbrochen wurde und mit einem Hustenanfall endete. »Sie werden nicht glauben, wie ich leide, wenn ich durch feuchte Zimmer gehen muß, mein Herr. Meine Knochen werden, mit Respekt zu melden, nicht alt werden. Jedenfalls, hier bin ich.«
Der Richter blieb ganz verblüfft vor dieser zweiten Marschallin d'Ancre stehen. Frau Jeanrenaud hatte ein mit unzähligen Löchern besätes, sehr gerötetes Gesicht mit niedriger Stirn, aufgestülpter Nase, ein Gesicht rund wie eine Kugel; bei der guten Frau war alles rund. Sie hatte die lebhaften Augen einer Landfrau, ihr freies Wesen, ihre joviale Sprechweise, kastanienbraunes Haar, das unter einem grünen Hut, der mit einem alten Aurikelstrauß geschmückt war, von einer Kappe zusammengehalten wurde. Ihr umfangreicher Busen reizte zum Lachen und ließ bei jedem Hustenanfall eine groteske Explosion befürchten. Sie hatte die dicken Beine einer Frau, von der die Pariser Gassenjungen sagen, daß sie auf Grundpfählen errichtet ist. Die Witwe hatte ein grünes, mit Chinchilla besetztes Kleid an, das ihr zu Gesicht stand wie ein Fettfleck dem Hochzeitsschleier einer Jungvermählten. Kurz, alles war bei ihr im Einklang mit ihrem letzten Wort: »Da bin ich.
»Gnädige Frau,« sagte Popinot, »man hat Sie im Verdacht, daß Sie den Marquis d'Espard verführt haben, damit er Ihnen erhebliche Summen zuwende.
»Was, was?« sagte sie, »Verführung? Aber, mein lieber Herr, Sie sind ein ehrenwerter Mann, und außerdem müssen Sie doch als Richter einen gesunden Menschenverstand haben, sehen Sie mich doch an! Sagen Sie mir doch, ob ich eine Frau bin, die jemanden verführen könnte. Ich kann meine Schuhbänder nicht zuschnüren, mich nicht bücken. Es sind jetzt zwanzig Jahre her, Gott sei Dank, daß ich kein Korsett tragen darf, wenn ich nicht eines gewaltsamen Todes sterben will. Mit siebzehn Jahren war ich dünn wie ein Spargel und hübsch, heute kann ich es Ihnen ja sagen. Dann habe ich Jeanrenaud geheiratet, einen ordentlichen Mann, Kondukteur bei den Salzschiffen. Dann habe ich meinen Sohn geboren, einen hübschen Jungen: er ist mein Stolz; und ohne mich herabzusetzen, er ist mein schönstes Werk. Mein kleiner Jeanrenaud war ein Soldat, der Napoleon zur Ehre gereichte, und hat ihm bei der kaiserlichen Garde gedient. Aber ach, der Tod meines Mannes, der ertrunken ist, hat eine Revolution bei mir bewirkt: ich habe die Pocken bekommen und bin zwei Jahre in meinem Zimmer geblieben, ohne mich rühren zu können, und dann bin ich herausgekommen, dick, wie Sie mich hier sehen, häßlich für ewig und totunglücklich ... So sieht meine Verführung aus!
»Aber, gnädige Frau, welches sind denn die Gründe, die Herr d'Espard haben konnte, daß er Ihnen solche Summen geschenkt hat? ...
»Ungeheure, mein Herr, sagen Sie es nur, ich bin ganz damit einverstanden; aber was die Gründe anlangt, so bin ich nicht berechtigt, sie mitzuteilen.«
»Sie täten Unrecht daran. Jetzt beginnt seine Familie, eben weil sie unruhig geworden ist, ihn zu verfolgen ...«
»Gott, mein Gott!« sagte die gute Frau und erhob sich eilig, »wäre es möglich, daß er meinetwegen bedrängt würde? Ein König von einem Mann, ein Mann, der nicht seinesgleichen hat! Ehe ihm der geringste Kummer zustößt, ich möchte sagen, ehe ihm ein Haar gekrümmt wird, würden wir alles zurückgeben, Herr Richter. Schreiben Sie das in Ihre Papiere. Gott, mein Gott! Ich laufe zu Jeanrenaud und sage ihm, wie es damit steht. Ach, das wäre ja reizend!«
Und die kleine Alte erhob sich, ging hinaus, rollte die Treppen hinunter und verschwand.
»Die da, die lügt nicht,« sagte sich der Richter. »Morgen werde ich alles wissen; denn morgen werde ich zu dem Marquis d'Espard gehen.«
Leute, die über das Alter hinaus sind, wo man in den Tag hinein lebt, wissen, welchen entscheidenden Einfluß scheinbar unerhebliche Umstände auf wichtige Ereignisse auszuüben vermögen, und werden sich nicht über die Bedeutung des folgenden kleinen Umstandes wundern. Am nächsten Tage hatte Popinot eine Coryza, ein ungefährliches Leiden, bekannt unter dem unappetitlichen und lächerlichen Namen »Gehirnschnupfen«. Unfähig, die Bedeutung eines Aufschubs
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