Die Entscheidung
knochigen Hand hielt und ihn nicht mehr loslassen würde. Das war der natürliche Lauf der Dinge. Wo ein Anfang war, musste auch ein Ende sein. Überraschenderweise machte es ihm nichts aus. Er hatte ein langes Leben gehabt, er hatte Dinge gesehen und gehört, von denen die meisten Menschen nichts mitbekamen. Nur wenige würden die Opfer in Erinnerung behalten, die er für sein Land gebracht hatte – doch auch das machte ihm nichts aus. Er hatte sich nie ins Rampenlicht gedrängt, und mit dem Beginn des Informationszeitalters hatte er seinen relativ anonymen Status immer mehr schätzen gelernt.
Thomas Stansfield war ein Familienmensch, der sein Leben jenseits der Öffentlichkeit führte – so wie es für den Mann, der den berühmtesten und berüchtigtsten Geheimdienst der Welt leitete, durchaus passend war. Er wollte zu Hause sterben, im Kreise seiner Töchter und Enkelkinder. Die Ärzte hatten ihn bedrängt, sich operieren zu lassen und sich einer Strahlentherapie zu unterziehen – doch Stansfield hatte das abgelehnt. In seinem Alter hätten sie allerhöchstens noch ein, zwei Jahre für ihn herausschinden können – falls er überhaupt überlebt hätte, nachdem man ihm drei Viertel seiner Leber herausgeschnitten hätte. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass er sich von der Operation nicht mehr erholt hätte. Seine Frau Sara war vor vier Jahren gestorben, und Thomas vermisste sie sehr. Möglicherweise war das der eigentliche Grund, warum er beschlossen hatte, nicht gegen die Krankheit zu kämpfen.
Was hatte es schon für einen Sinn? Er hatte neunundsiebzig gute Jahre gehabt und war heute die meiste Zeit allein. Der zweite Grund, warum er nicht kämpfen wollte, waren seine Töchter. Er wollte nicht, dass sie zwei Jahre zusehen mussten, wie er nach und nach verfiel. Wäre er jünger gewesen, so wäre das etwas anderes gewesen – doch heute fühlte er sich ganz einfach müde. Er wollte in Würde sterben und nicht körperlich und geistig dahinsiechen.
Man hatte ein Krankenhausbett in das Arbeitszimmer in seinem Haus gestellt. Das bescheidene Gebäude im Kolonialstil stand auf einem bewaldeten Grundstück, das sich über zwei Morgen erstreckte. Im Frühling hatten sie oft im Garten gesessen und auf den Potomac hinuntergeblickt. Stansfield saß auf seinem Lieblingslederstuhl und sah bewundernd aus dem Fenster auf die herbstlichen Farben hinaus. Wie passend, dachte er, in dieser Jahreszeit zu sterben.
Seine ältere Tochter Sally war aus San Diego gekommen, um sich um ihn zu kümmern. Seine zweite Tochter Sue würde am Mittwoch aus Sacramento eintreffen. Sie hatten beide vor, bis zum Ende bei ihm zu bleiben. Die fünf Enkelkinder waren am vorletzten Wochenende hier gewesen, um noch einmal ein wenig Zeit mit ihrem Großvater zu verbringen, bevor er nicht mehr imstande war, es zu genießen. Das älteste seiner Enkelkinder war siebzehn und das jüngste fünf Jahre alt. Das Wochenende war schmerzhaft und tränenreich, aber notwendig gewesen.
Heute hatte ihm Sally geholfen, sich anzukleiden, weil er Besuch erwartete. Er trug eine braune Hose, ein hellblaues Hemd und eine graue Strickjacke. Sein weißes Haar war gescheitelt und zurückgekämmt. Im Fernsehen lief ein Footballspiel, das ihn jedoch nicht sonderlich interessierte. Er machte sich Sorgen wegen eines Telefonanrufs, den er vor kurzem erhalten hatte. Es war ihm ein Anliegen, alles geordnet zurückzulassen, wenn er ging. Er hatte für seine Enkelkinder Geld beiseite gelegt, damit sie studieren konnten, wenn sie es wollten. Es gab aber keine Sportwagen oder Boote oder sonstiges Spielzeug, das die Menschen nur bequem und oberflächlich machte. Den Rest würden seine Töchter bekommen – und Stansfield machte sich keine Sorgen, dass sie das Erbe nicht klug verwenden könnten.
Was Thomas Stansfield sehr wohl Sorge bereitete, war die CIA. Die Situation dort war nicht geordnet, und in jüngster Vergangenheit mehrten sich die Anzeichen, dass es schlimmer stand, als er befürchtet hatte. Er hatte niemandem außer seinen Angehörigen Einblick in sein sorgsam gehütetes Privatleben gewährt. Es gab eine einzige Ausnahme, nämlich Irene Kennedy. Für Stansfield war sie so etwas wie eine dritte Tochter – und sie war seiner Ansicht nach die fähigste und wohl auch die wichtigste Mitarbeiterin der CIA. Allein deshalb hatten es wohl viele auf sie abgesehen – und Stansfield befürchtete, dass seine Feinde nach seinem Tod alles daransetzen würden, um sie zu Fall zu
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