Die Erben der Nacht - Pyras
träge, dass Carmelo den Gefangenen erkannte, ehe das Licht unter einem Griff seiner Pranke erlosch. Er hörte Dr. Westphal aufschreien und das Splittern von Glas. Polternd fiel die Lampe zu Boden. Einer der Männer stöhnte. Der metallische Geruch von Blut stieg in die Luft. Carmelo schloss für einen Moment gequält die Augen. So geschwächt die Kreatur auch war, ihre Kräfte überstiegen
offensichtlich noch immer die eines Menschen. Wen er sich wohl gegriffen hat?, dachte er, während er sich den Korridor entlang zum Ausgang tastete. Dort draußen war eine Lampe. In seinem jetzigen Zustand war der Vampir vermutlich noch gefährlicher wie ein verwundeter Wolf. Ohne Licht waren sie nur ein Haufen blinder Beutetiere für den Vampir. Und mit Licht? Was waren sie da?
Carmelo fühlte ein hysterisches Lachen in der Kehle. Auch nur eine aufgeschreckte Wildherde, die ihrem Tod aber zumindest in die Augen sehen konnte. Carmelo hatte zu viel Erfahrung mit Vampiren, um sich der Illusion hinzugeben, sie könnten ihn - unbewaffnet, wie sie waren - überwältigen. Ihm blieb nur die eine Hoffnung, die er mit allen Herdentieren teilte. Der Räuber würde sie nicht alle fressen. Vielleicht traf es nur einen der anderen und das eigene Leben bliebe verschont.
Polternd fiel ein schwerer Körper zu Boden. Carmelo brauchte nicht viel Fantasie, um zu wissen, dass der Vampir seine erste hastige Mahlzeit beendet hatte, die ihm helfen würde, seine Schwäche zu überwinden. Stimmen riefen durcheinander. Ein Schmerzensschrei mischte sich darunter. Carmelo dämmerte eine Erkenntnis, die ihn entsetzte. Vielleicht war der Vampir nicht der Räuber, der nur seinen Hunger stillen und seine Kräfte zurückgewinnen wollte. Vielleicht war er der gequälte Gefangene, der auf Rache an allen sann, die ihn gepeinigt hatten! Vielleicht war es in diesem Fall einfach das Klügste, wegzulaufen und sein eigenes Leben zu retten. Eine Stimme in seinem Kopf flüsterte, dass das feige wäre, doch eine andere riet ihm, keinen sinnlosen Heldentod zu sterben. Wenn er eine Waffe gehabt hätte, wäre das etwas anderes gewesen. Carmelo hatte schon die Klinke in der Hand, als ihm etwas einfiel. Im ersten Raum auf der linken Seite, waren da nicht diese beiden dünnen silbernen Stangen, die der Doktor für irgendwelche Behandlungen brauchte? Sie waren angespitzt wie Lanzen. Damit ließe sich etwas anfangen. Eine Waffe und Licht - und ein hoffentlich noch nicht ganz wiederhergestellter Vampir. Diese Rechnung konnte zu seinen Gunsten aufgehen. Er tastete sich an der Wand entlang zur Tür, doch ehe er sie erreichte, flammte vom anderen Ende eine Lampe auf, und eine
Stimme erhob sich, die ihn wie versteinert innehalten ließ. Hatte der Vampir seine Sinne so verwirrt, oder war das dort seine Nichte Latona, die außer sich vor Zorn schrie: »Lass ihn sofort los. Du hast es versprochen!«
Ivy lief zwischen Seymour und Malcolm durch die finsteren Tunnel. Alisa hatte es nicht einmal bemerkt, als sie sich ihren Schlüsselbund nahm, so sehr war sie in ihre Lektüre vergraben. Der Stapel Papiere, den die Vamalia gerade durchlas, wirkte noch neu und stammte von dem Franzosen Louis Pasteur.
»Es ist unglaublich«, murmelte sie vor sich hin. »Aber wir können uns ja schlecht in kochendes Wasser legen, um all die kleinen, krankmachenden Wesen abzutöten.«
Ohne Seymour hätte Ivy die Gitter auch in Gestalt eines kleinen Tieres passieren können, doch sie wollte ihn nicht zurücklassen. Außerdem wusste sie nicht, wie kräftezehrend es für Malcolm war, sich in Nebel aufzulösen. Da war Alisas Schlüsselbund der einfachere Weg.
Ivy hatte nichts zu ihren Freunden gesagt. Sie wollte nicht stören. Vielleicht war ihre Überlegung ja falsch und dann schreckte sie die drei unnötigerweise auf. Außerdem ahnte sie, dass Malcolms Widerstand noch steigen würde, sollten sich Alisa oder gar Luciano und Franz Leopold ihnen anschließen. So hatte sie ihn schließlich überzeugen können, ihr bei ihrem Vorhaben, das vielleicht die Rettung aller bedeutete, zu helfen.
Nun waren sie schon auf dem halben Weg zu den belebten Straßen links der Seine, in denen einige Luxushotels zu finden waren, darunter auch jenes, in dem sich Carmelo und seine Nichte Latona einquartiert hatten.
Malcolm zürnte ihr, das konnte sie spüren, und es war ihm gar nicht recht, Ivy zu Latona zu führen, trotzdem fügte er sich.
»Welchen Weg nun?«, fragte sie, als Malcolm an einer Verzweigung des Abwasserkanals
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