Die Erben der Nacht - Pyras
dann?«, fragte Ivy, doch Hindrik blieb ihnen die Antwort schuldig.
»Kommt mit zurück. Dann muss ich nicht alles mehrfach erzählen. Dame Elina ist der Meinung, dass nun alle das Recht haben zu erfahren, was vor sich geht.«
»Dann weißt du schon länger davon und hast nichts gesagt?«, empörte sich Alisa.
»Nicht länger, das würde ich so nicht sagen. Meine Aufgabe vergangene Nacht war allerdings, an die Pläne der Baubehörde heranzukommen. Dass etwas im Gange ist, haben wir zufällig durch einen Brief erfahren, den einer der unseren bei einem Bankier gefunden hat. Das klang alarmierend, und so schickte mich Dame Elina, die Sache zu klären.«
»Trotzdem hättest du uns gleich auf dem Laufenden halten können, statt zu warten, bis die Menschen mit Vorschlaghämmern anrücken und alles niederreißen«, zürnte Alisa noch immer.
»Nun, alles sicher nicht«, gab Hindrik lächelnd zurück. »Nur die alten Häuserblocks, um die es nicht schade ist, da bin ich ganz Franz Leopolds Meinung. Unsere prächtigen Häuser am Kehrwieder werden sie ganz sicher nicht zerschlagen. Sie sind das glorreiche Denkmal der erfolgreichen Kaufmannsgilde des siebzehnten Jahrhunderts!«
Und so verzögerte sich der Beginn der Lehrstunden an diesem Abend noch einmal. Dame Elina rief die Erben zu sich ins Kontor, wie man ihr Zimmer nannte, in dem noch immer der wuchtige Sekretär des Kaufmanns stand, der mit seiner Familie die beiden Häuser im vergangenen Jahrhundert bewohnt hatte.
»Wie viele von euch vielleicht wissen, ist Hamburg eine freie Reichsstadt, eine Stadt der Hanse«, begann Dame Elina. »Die Stadt ist dem Meer und dem Fluss verbunden. Sie lebte und lebt vom Handel, ist die Drehscheibe zwischen Übersee und Binnenland. Die Kaufleute, Reeder und Bankiers, die die Geschäfte finanzieren, repräsentieren den Reichtum und den Erfolg der Stadt.«
Die Erben sahen einander fragend an. Was sollte das jetzt werden? Geschichtsunterricht? Karl Philipp gähnte unverhohlen. Dame Elina fuhr ungerührt fort.
»Über Erfolg oder Misserfolg der Handelsgeschäfte entscheiden nicht nur Stürme und Meeresströmungen, die Schnelligkeit der Schiffe oder Piraten, die den Händlern auflauern. Ob sich am Ende das Geschäft gelohnt hat, hängt auch von den Zöllen ab.«
Tammo verdrehte die Augen, und Joanne stieß ein Geräusch aus, das einem Schnarchen ähnelte.
»Hamburg war von jeher Freihandelsstadt, sodass die Waren ohne Zölle in den Hafen herein- und wieder hinausgelangen konnten.« Dame Elina stützte sich auf den Sekretär und beugte sich ein wenig nach vorn. Ihre Stimme wurde schärfer. Vielleicht näherte sie sich nun dem entscheidenden Punkt.
»So war es zu allen Zeiten, aber nun will der Reichskanzler Bismarck Hamburg zum Zollanschluss an das Reich zwingen. Das konnte der Senat nicht hinnehmen, doch was blieb ihm übrig? Der Kanzler drohte, Altona abzuspalten und mit Privilegien zu versehen, sollte Hamburg nicht einlenken. Nun, ich will euch nicht mit der Politik der Menschen langweilen …«
»Ach, und was tut sie die ganze Zeit?«, raunte Luciano, der noch immer ein wenig schmollte, dass sie ihn auf ihrem Ausflug am Abend nicht mitgenommen hatten.
»Wenn du immer erst so spät aus deinem Sarg kommst, dann versäumst du halt etwas«, gab Franz Leopold zurück, während Ivy und Alisa versuchten, ihn zu besänftigen.
»Die Lösung, auf die sich Senat und Kanzler einigten, ist - einerseits der Anschluss der Stadt an das Reichsgebiet, aber auf der anderen Seite die Errichtung eines Freihafens.«
Sie sah sich um, als habe sie eine großartige Überraschung verkündet und erwarte nun Beifall, doch die Erben wirkten desinteressiert oder verwirrt.
»Was hat das mit dem Auszug der Menschen und dem Abbruch der Häuser zu tun?«, fragte Alisa.
»Für diesen Freihafen, der von der Stadt abgetrennt sein muss, um den Strom der Waren zu kontrollieren, müssen der Hafen erweitert und Lagermöglichkeiten geschaffen werden. Das Dovenfleet wird zum Zollkanal, der Wandrahm und der Kehrwieder zur Speicherstadt.
Sie werden neue Kanäle und Fleete graben, Brücken schlagen und vor allem Speicher bauen. Ich habe die Pläne gesehen, die Hindrik besorgt hat. Beeindruckende Bauten haben sie sich ausgedacht: auf Stelzen gegründet, die tief in den Boden gerammt werden, Reihen von Speicherbauten mit bis zu sieben Böden für die Waren, mit Kränen an der Fleetseite, um die Säcke und Kisten hochzuhieven, und mit Luken und Treppen auf der Seite zur
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