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Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition)

Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Lowe
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physischen und der metaphysischen Welt. « Er runzelte die Stirn und fragte sich, ob die Ereignisse in beiden Welten einander exakt widerspiegelten, oder ob man in einer Welt handeln konnte, ohne die andere zu beeinflussen. Wie zur Antwort auf seine Gedanken löste sich der Nebel um ihn herum auf und zeigte ihm einen Pfad, der um den Turm herumführte und vor seinen Füßen endete.
    In diesem Moment wusste er, dass er zu etwas in der Nähe geführt werden oder dass er etwas dort sehen sollte.
    Als Tarathan den Pfad betrat, spürte er zum ersten Mal Malian und Kalan. Das Gefühl war sehr schwach und wurde von etwas überlagert, das er für die Aura ihrer Verfolger hielt. Trotzdem war er sich nun sicher, dass sie in der tatsächlichen Welt diesen Weg genommen hatten.
    Er fand den Schatten der ersten Leiche einige hundert Meter vom Wachturm entfernt. Der echte Körper musste auf der gleichen Hügelkuppe in Jaransor liegen. Er konnte noch nicht lange tot sein, denn der Schatten verfügte über viel Substanz. Der Schattenkörper trug eine schwarze Rüstung, das Visier seines Helms war geschlossen. Gestorben war er an einem Derai-Pfeil, der sich in seinen Hals gebohrt hatte, genauer gesagt in die schmale Lücke zwischen Kehlstück und Brustplatte. Tarathan betrachtete die Leiche einen Moment lang aus schmalen Augen, dann ging er weiter. Mit allen Sinnen suchte er nach verborgenen Gefahren.
    Die nächsten Leichen entdeckte er nicht weit entfernt. Eine lag quer auf dem Pfad, die andere hing über einem Fels. Beide waren von Derai-Pfeilen getroffen worden. Tarathan schritt voran, bis er ein Schattenpferd auf dem Pfad fand, dessen toter Reiter unter ihm eingeklemmt war. Es gab kaum wahrnehmbare Spuren rund um die Leichen – Schatten eines Schatten –, und Tarathan kniete sich hin, um sie genauer zu betrachten. Die Spuren verrieten ihm, dass sich bis zu zwanzig Reiter um den Gefallenen versammelt und sich dann wieder verteilt hatten. Zu diesem Zeitpunkt, das wusste Tarathan, hatten sie die Jagd ernsthaft betrieben. Sie mussten entschlossen gewesen sein, die Angriffe des oder der Derai-Bogenschützen zu beenden. Eine Spur des Geistraubtiers fand er nicht. Er spürte es auch nicht in der Nähe der Reiter. Tarathan runzelte die Stirn und fragte sich, ob das Raubtier auf eigene Faust jagte, eher ein Verbündeter der Krieger des Schwarms der Finsternis war als ihr Sklave.
    Fast eine Meile lang war keine weitere Leiche zu sehen, doch dann umrundete Tarathan einen Felsüberhang und entdeckte die Leiche eines Mannes, die mit ausgebreiteten Gliedmaßen zwischen zwei heruntergebogenen jungen Bäumen hing. » Der Schatten eines Mannes « , dachte er automatisch, » festgebunden zwischen Schattenbäumen. « Doch er wusste, dass all das in Jaransor Wirklichkeit war. Der Mann war kein Krieger des Schwarms der Finsternis. Er trug Leder und dunkle Kleidung, so wie ein Jäger oder Reisender. Sein Gesicht war durch einen Schlag mit einem Streitkolben oder vielleicht einem Morgenstern zerstört worden, aber Tarathan erkannte ihn trotzdem. Er hatte zu den Wachen gehört, von denen sie zur Alten Burg begleitet worden waren. Kyr, das war sein Name, ein grimmiger, schlecht gelaunter Mann, aber ein guter Soldat.
    Tarathan betrachtete den Schatten der Leiche mit großer Sorgfalt, versuchte die Geschichte von Kyrs Tod zu lesen. Der Schlag gegen den Kopf hatte ihm den Tod gebracht, doch schon vorher war er von einem Pfeil am Knie getroffen worden und von einem Speer in den Rücken, wahrscheinlich, als er zu fliehen versuchte.
    Also banden sie ihn fest, damit der Besitzer des Streitkolbens das Werk vollenden konnte. Er seufzte. Es lag in der Natur des Krieges, die zu verrohen, die in ihm kämpften, und wenn die Geschichten stimmten, kämpften der Schwarm und die Derai schon seit sehr langer Zeit gegeneinander. Trotzdem brachte er es nicht über sich, jemanden so zurückzulassen, vor allem jemanden, der, wenn auch nur kurz, sein Kamerad gewesen war.
    Tarathan zog sein Messer und durchschnitt die Schattenfesseln, ohne zu wissen, ob seine Taten auf der anderen Seite des Tors Konsequenzen haben würden. Er glaubte jedoch, dass die beiden Jaransors einander nahe genug waren. Er legte den gewichtlosen Körper neben den Pfad und drehte Kyrs zerstörtes Gesicht zum Himmel.
    » Mögest du bei deinen Neun Derai-Göttern Frieden finden « , sagte der Herold und wandte sich ab.
    Am Rande eines kleinen Plateaus, auf dem alte Ruinen unter einem dunklen Himmel

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