Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
Gefangenen gestattet, Haferbrei zu essen und ab und zu frische Kleidung zubekommen!«, sagte der Turmwart, und man konnte förmlich den Zusatz hören: Der frühere Kämmerer hätte das gewusst!
»Schau raus zum Fenster, da siehst du die alte Zeit!«, rief Šimon. »Die alte Zeit ist tot! Wenn es so weitergeht, werden die Menschen Verbrechen verüben, um in den Turm zu kommen, weil es ihnen da besser geht als in Freiheit!«
»Der Herr Kämmerer hat vermutlich noch keine Nacht im Stock zugebracht, wenn er so redet«, erwiderte der Turmwart steif.
»Papperlapapp. Die Stadt kann es sich nicht leisten, auch noch den Gottlosen die Wänste zu füllen.«
Alexandra legte Šimon die Hand auf den Arm, um zu verhindern, dass er sich künstlich in Rage redete; dann warf sie einen Blick in sein Gesicht und erkannte bestürzt, dass der Mann nicht versuchte, den Turmwart in eine nachteilige Gesprächsposition zu bringen, sondern dass es ihm ernst war.
»Wie sollen wir so die Zukunft auf bauen?«, fuhr er fort. »Wenn es mit Pilsen wieder bergauf gehen soll, dann ist falsches Mitleid fehl am Platz! Wer sich der Gemeinschaft in einer solchen Situation widersetzt oder ihr schadet, gehört aus ihr ausgeschlossen!«
»Es redet sich leicht, wenn man nicht die ganze Zeit dem Flehen und Stöhnen der Unseligen in den Zellen ausgesetzt ist, während die Kälte darin selbst den Pisstopf einfrieren lässt!«
»Šimon«, sagte Alexandra beunruhigt. »Mitleid ist niemals falsch, und die Zukunft liegt in der Vergebung der Sünden aus der Vergangenheit.« Sie fühlte Bitterkeit darüber, dass ausgerechnet sie, die sich selbst die Vergebung versagte, etwas Derartiges vorbrachte.
»Zukunft ist Auf bau. Man baut nicht auf einem brüchigen Fundament.«
»Für Pilsen ist die Zukunft der Wieder auf bau. Und dafür nimmt man die alten Grundmauern her.«
»Da ist was Wahres dran«, bestätigte der Turmwart und schenkte Alexandra ein väterliches Lächeln.
Šimon wandte sich irritiert ab. »Was ist das hier überhaupt für ein Lärm?« Er riss eine Tür auf, hinter der Lachen und Kindergekreisch hörbar geworden war. Sie öffnete sich in einen Raum, der offenbar der Wohnraum für den Turmwart und seine Familie war. Vage Wärme schlug ihnen entgegen, abgestandene Luft und der Geruch von gekochtem Kohl. Alexandra erwartete, dass der neu ernannte Kämmerer sich entschuldigen und die Tür wieder schließen würde, aber stattdessen zogen sich seine Augenbrauen zusammen, und ein Finger streckte sich anklagend aus: »Was-ist-das?«
Der Raum wurde von einer riesigen Bettstatt dominiert, die nicht viel mehr war als ein Holzrahmen, auf dem Strohsäcke und Streu als Matratzen lagen, mit verschiedenerlei Decken überzogen. In einer Ecke befand sich eine Strohschütte, auch sie mit Decken belegt. Davor sprang ein dünnes kleines Kind mit wilden langen Haaren auf und ab und kreischte; andere Kinder tanzten um es herum und warfen sich ein Stück Brot zu, das es vergeblich zu fangen versuchte. Es sah aus wie eines der grausamen Spiele von Kindern, bis die Kleine in der Mitte des Zirkels auf einmal stürzte. Die Kinder brachen das Spiel ab und halfen ihr wieder auf die Beine. Mit einem Gefühl, als sänke Eis in ihren Leib, erkannte Alexandra, dass das kleine Mädchen mit den wilden Haaren eine Fußkette trug, deren anderes Ende an einem Ring in der Mauer neben seinem Schlafplatz befestigt war.
Der Turmwart räusperte sich verlegen. »Das … äh … das ist das … äh … das Hexenkind.«
»Waaas?«, dehnte Alexandra.
Der Turmwart zuckte mit den Schultern. »Die Kleine ist vor vier Jahren zusammen mit ihrer Mutter zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt worden. Aber zu der Zeit waren kaiserliche Beamte und ein paar Jesuiten in der Stadt, unddiese haben Einspruch eingelegt, weil sie noch keine zwölf Jahre alt war und daher nicht justifizierbar. Das Urteil wurde ausgesetzt und das Kind zur Haft verurteilt, bis es zur Strafmündigkeit herangewachsen sei.«
»Stimmt«, sagte Šimon. »Ich erinnere mich an den Fall. Aber das … das ist doch eine völlig verwilderte Kreatur!«
»Na ja«, erklärte der Turmwart, »das ist, was der Kerker aus einem macht.«
Šimon verzog angeekelt den Mund, als die Kinder des Turmwarts begannen, mit dem Mädchen an der Kette zu balgen. Sie waren allesamt blasse, dünne Rotznasen, aber gegen die Zartheit des gefangenen Mädchens wirkten sie wie robuste Bauernlümmel. Alexandra hörte sie lachen und kreischen, mit der
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