Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
zerbrochenen Körper.
»Herr vergib ihm, er wusste nicht, was er tat«, sagte Wenzel und machte das Kreuzzeichen.
Johannes’ Kopf rollte zur Seite. Aus dem Refektorium hinter Wenzel wurde eine einzelne Stimme laut: »Ich geb auf, verdammich, ich geb auf! Quartier! Quartier!«
Wenzels und Melchiors Blicke kreuzten sich.
»Was nützt dir das Elfte Gebot, wenn ich dich dauernd rauspauken muss?«, fragte Melchior. »Langsam glaube ich, ihr habt das wirklich nur erfunden.«
»Danke«, sagte Wenzel und umarmte ihn.
Melchior klopfte ihm auf die Schulter und machte sich los. Er hatte immer noch die Pistole in der Hand. Er legte sie auf das Fenstersims, und dann sah Wenzel, wie seine Hand zu zittern begann und er Mühe hatte, die Finger von der Waffe zu lösen. In seine Augen trat ein wilder Ausdruck, als er sich im Refektorium umsah und der leblosen Gestalten von Johannes’ Männern gewahr wurde. Das fahle Licht von draußen spiegelte sich in den dunklen Lachen, in denenihre Körper lagen. Die Überlebenden pressten die Hände auf ihre Wunden oder hockten mit gesenkten Köpfen da, argwöhnisch betrachtet von den zerzausten Mönchen. Melchior sah auf seine Hände, die schwarz vom Schmauch der abgefeuerten Musketen waren. Sie zitterten immer stärker.
»Ich hab sie einfach …«, murmelte er. »Ich hab sie einfach ins Visier genommen und …«
Wenzel fasste ihn am Kinn und hob Melchiors Gesicht. Die Augen des jungen Mannes schwammen. Wenzel sagte nichts. Es gab nichts zu sagen, wenn man einem Menschen gegenüberstand, der langsam begriff, dass er getötet hatte. Melchior hatte es getan, um seine Freunde zu retten. Die Größe der Tat verblasste hinter der Tatsache, dass er Leben genommen, Leben zerstört hatte. Es waren Charaktere wie seiner, die unter der Last dieser Erkenntnis zu zittern begannen, die in der Lage waren, mit dem Töten wieder aufzuhören. Die anderen machten einfach weiter. Die anderen waren Menschen wie die, die sich um den Steinernen Johannes geschart hatten. Melchior schluckte. Wenzel lächelte. Melchiors Brust hob sich in einem krampfhaften Atemzug, mit dem er um seine Fassung kämpfte.
»Papa hätte einen anderen Weg gefunden«, flüsterte er.
»Du bist nicht dein Vater«, sagte Wenzel. »Du bist du. Du hast deinen Weg gefunden, und du hast uns alle gerettet. Der Herr hat dich geschickt.«
»Auge um Auge, was?«, schnaubte Melchior bitter. »Was ist mit der anderen Backe?«
Es gab darauf so viele Antworten, dass es in Wirklichkeit keine gab. Wenzel schwieg. Nach einer Weile schüttelte Melchior den Kopf.
»Ich glaube nicht, dass mich der Herr geschickt hat. Tatsächlich bin ich um des Teufels willen hier. Wir brauchen schnelle Pferde, Wenzel. Du weißt das Schlimmste noch nicht.«
34.
Zuerst hatte Andrej den Eindruck, dass sie unversehens in eine Seminaristenschule geraten waren, deren Leiter, ein Mann mit schäbiger Priestersoutane, über seinen Schülern präsidierte, die allesamt noch Kinder waren. Dann stellte er fest, dass er und Cyprian, was das anging, auch zu den Kindern gehörten, und die Größenverhältnisse fielen wieder in die richtigen Proportionen zurück: der Mann in der Soutane war ein Riese. Unwillkürlich stieg das Bild des vermodernden Skeletts von Bruder Buh in seinem einsamen Grab in den Wäldern bei Eger vor Andrejs geistigem Auge auf, aber es passte nicht. Der Mann hier war weder so groß noch so mächtig gebaut wie der ehemalige Kustode, und sein Gesicht war fein gemeißelt und nicht eine Ansammlung wuchtiger Granitfelsen, wie es das von Bruder Buh gewesen war.
Einer der anderen Männer war Wilhelm Slavata, der Reichskanzler. Slavata blickte bei ihrem Eintreten auf. Es war zu bezweifeln, dass ihn jetzt noch jemand durch irgendein Fenster würde werfen können, wie es ihm als damaligem königlichem Statthalter mitsamt seinem Kollegen Graf Martinitz und ihrem Schreiber Philipp Fabricius widerfahren war. Um den heutigen Wilhelm Slavata nach draußen zu befördern, hätte es eines Lastkrans bedurft – und einer Fensteröffnung von der Größe eines Stadttors. Der Kanzler saß in sich zusammengesunken da, was bedeutete, sein Kopf ruhte auf einem Kissen mehrerer aufeinanderfolgender Doppelkinne, und sein Wanst umschmeichelte die Kante des Tischs. Slavatas Gesicht nahm die Querfalten, die seine Kinne bildeten, nahtlos auf: der Mund, die feisten Bäckchen, die gefurchte Stirn bildeten ebenfalls scharfe Falten, als drücke das Gewicht des eigenen Specks seine Kontur
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