Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
immer so unempfänglich dem gegenüber, was andere von ihm dachten. Er behandelte seinen berüchtigten Ruf wie einen Scherz. Er war …
Oliver hatte Sebastian, als er das letzte Mal in Cambridge war, vorgehalten, er verstecke seine Unzufriedenheit. Aber er hatte eine leichte Melancholie vermutet, nicht … dies. Sebastian hatte immer gescherzt, hatte immer gelacht. Wie viel davon war je echt gewesen?
Sie gingen schweigend ein paar Straßen weit. „Weißt du, Sebastian“, bemerkte Oliver ruhig, „ich will nicht vorgeben zu verstehen, was vor sich geht … aber du schuldest Violet eine Entschuldigung.“
Sebastian schnaubte abfällig.
„Ich meine das ernst. Vor einer ganzen Menschenansammlung hast du …“
„Du weißt nicht, was sie getan hat.“ Sebastians Stimme wankte. „Was sie mir antut.“
„Es ist mir völlig gleich, was sie tut. Wie könnte es das rechtfertigen, was du gerade gesagt hast? Vor allen anderen?“
Sebastian zuckte die Achseln und schaute weg. Er fügte nichts weiter hinzu, was so gar nicht zu ihm zu passen schien.
„Nun gut“, sagte Oliver. „Was tut sie?“
„Nichts“, antwortete Sebastian mit einem Kopfschütteln, „Sie tut überhaupt nichts.“ Aber seine Stimme war ein paar Töne höher als sonst.
„Sebastian, du kannst mich nicht einfach so abfertigen …“
„Alle hassen mich.“ Sebastian drehte sich zu ihm um. „Alle. Anfangs waren es nur ein paar Leute. Jetzt gibt es überall, wohin ich auch gehe, Morddrohungen und Leute, die mir die Pest an den Hals wünschen. Die Zeitungen sind voller Schmähungen. Alle hassen mich, Oliver. Alle.“
„Sicherlich nicht alle.“
„Genug, dass es nicht mehr darauf ankommt, wer es nicht tut“, entgegnete Sebastian. „Ist es wichtig, ob ganz England mich gevierteilt sehen will oder nur die Hälfte? In beiden Fällen sind es eine verdammte Menge Leute, die nach meinem Blut lechzen.“
Oliver schluckte. „Ich dachte, du magst so etwas? Leute reizen, ihnen unter die Haut gehen.“
Sebastian warf die Hände in die Luft. „In der ganzen Zeit, in der du mich nun schon kennst, Oliver“, sagte er mit bebender Stimme, „in all der Zeit – wann habe ich je einen Scherz auf Kosten anderer gemacht?“
„Äh …“
„Ja, ich ärgere die Leute gerne.“ Sein Freund entfernte sich ein paar Schritte, bevor er sich wieder umdrehte. „Aber ich möchte gemocht werden, Oliver.“
Wie kam es, dass Oliver das nie zuvor bemerkt hatte? Witzbold Sebastian. Lächelnder Sebastian. Aber er hatte recht, jeder seiner Streiche hatten immer darauf abgezielt, alle zum Lachen zu bringen. Er verspottete sich selbst mehr als alle anderen, und als sie gemeinsam zur Schule gegangen waren, hatte ihn alle deswegen gut leiden können.
Oliver schluckte. „Es tut mir leid“, sagte er schließlich. „Ich … ich weiß, dass die Reaktionen, die du erntest, dich treffen. Dennoch … was du eben zu Violet gesagt hast, das war unverzeihlich grob.“
Sebastian verspannte sich. „Ich werde nicht über Violet mit dir sprechen.“
„Nun, dann bin ich eben derjenige, der spricht, weil ich das hier nicht ungesagt lassen werde. Sebastian, ich glaube, Violet ist in dich verliebt.“
Er hatte damit gerechnet, dass Sebastian wiedersprechen würde, die Stirn runzeln. Wenigstens darüber nachdenken würde.
Stattdessen brach Sebastian in Gelächter aus. „Nein“, sagte er, als er sich erholt hatte. „Nein, das ist sie nicht.“
„Denk darüber nach. Wie sie dich angesehen hat, als du eben gesprochen hast. Es war wie … ich weiß nicht. Ich kann es nicht beschreiben.“
„Ich weiß, wie sie mich angesehen hat“, sagte Sebastian mit einem seltsamen kleinen Lächeln. „Glaub mir, ich bin mir sehr sicher, dass Violet nicht in mich verliebt ist.“
„Da kannst du dir nicht sicher sein. Du hast schließlich nicht gesehen …“
„Doch, kann ich“, erwiderte Sebastian. Er schaute nach oben. „Lass es auf sich beruhen, Oliver.“ Er lächelte. „Ich muss selbst einen Weg aus diesem Morast finden. Aber mach dir keine Sorgen.“ Seine Stimme wurde kräftiger. Oder vielleicht kehrte auch nur seine Fähigkeit, überzeugend zu lügen, wieder zurück. „Unser unerschrockener Held, von allen Seiten bedrängt, hat einen Moment der Schwäche erlebt.“ Seine Stimme war tief und volltönend. „Aber so ist es immer. Die dunkelste Stunde ist in der Tat die direkt vor dem …“
Oliver versetzte ihm einen Stoß gegen die Schulter. „Komm, Sebastian, hör auf, mir
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